Als die Abgeordneten des ersten deutschen Parlaments vor 160 Jahren ihre Plätze in der Frankfurter Paulskirche einnahmen, gab es noch keine Parteien.
Ach, wäre es doch dabei geblieben.
Ja, sicher: Schon 1848 war es nicht lange dabei geblieben. Ähnliche politische Positionen fanden alsbald zueinander. Man setzte sich mit den Brüdern im Geiste zum Äppler zusammen, man suchte Mehrheiten, bildete Fraktionen. Koalitionen im heutigen Sinne aber gab es nicht, und somit auch keine Koalitionsdisziplin, die sich über politische Überzeugungen stellen ließen.
Das Paulskirchen-Parlament ist seinerzeit oft als Schwätzerclub verspottet worden. Heute wird nicht mal mehr ernsthaft miteinander geredet. Wozu auch? Nach einer Wahl wird die rechnerische Mehrheit gesucht, werden die Posten verteilt, wird ein Koalitionsvertrag geschlossen. Und sobald die Tinte trocken ist, muss niemand mehr durch Argumente überzeugen. Ein paar Strippenzieher fällen Entscheidungen, die Koalition darf abnicken. Die Mehrheit steht, und keiner der Beteiligten mag dran rütteln.
Hm. Da der Wiesbadener Landtag doch schon so nah an Frankfurt ist, dem Schauplatz des Paulskirchen-Parlaments – vielleicht könnten die Landtagsabgeordneten sich bei ihrer konstituierenden Sitzung am 5. April darauf besinnen, wie alles anfing? Und das könnte so aussehen: Roland Koch und seine Regierung bleiben geschäftsführend im Amt. Sie werden Diener des parlamentarischen Willens: Koch & Co haben auszuführen, was der Landtag mehrheitlich beschließt. Und diese Mehrheit ist eben diesmal nicht von vorneherein festgelegt und vertraglich besiegelt. Sie kann … wechseln.
Wechselnde Mehrheiten! Heissa, was könnte uns das bescheren: Sachfragen dürfen wieder leidenschaftlich diskutiert werden. Mehrheiten müssen jedesmal aufs Neue errungen werden – mit (Achtung, Novum:) Argumenten. Überzeugungsarbeit statt Hinterzimmer-Absprachen! Denn niemand kann sich mehr darauf verlassen, dass sämtliche Vorder- und Hinterbänkler der Koalition die Hand schon an der richtigen Stelle heben werden. Immerhin: Als vor kurzem der Bundestag das Stammzellen-Gesetz in dieser Weise debattierte, war von einer Sternstunde der parlamentarischen Demokratie die Rede.
Wer anno 1848 in Einzelfragen anderer Meinung war als die Fraktionskollegen, scherte ruckzuck aus und bildete eine neue Gruppe. Innerhalb weniger Monate wurden so aus drei Grundrichtungen fast ein Dutzend Fraktionen. Manche Abgeordnete blieben fraktionslos, stimmten mal hier, mal dort mit. Das alles mag den Prozess der Willensbildung verkompliziert und in die Länge gezogen haben. Und am Ende ist die Nationalversammlung ja auch gescheitert. Allerdings nicht an ihrem Verständnis von Parlamentarismus.