Love 2010

Kurz vor 11 Uhr am Abend, ich sitze hinter schwedischen Gardinen und sehe zu, wie es draußen gerade erst dämmert. “Love 2010” war auf der Busfahrt vom Flughafen Arlanda nach Stockholm auf vielen Plakaten und LED-Bildschirmen zu lesen, der offizielle Slogan, mit dem das Land die Hochzeit der Kronprinzessin bewirbt, aber hier, ein paar Kilometer nördlich der Altstadt, ist zwei Tage vor dem großen Hochzeitsfest keine Aufregung zu spüren – keine Plakate, keine Fahnen, kein Fensterschmuck an den alten, imposanten Häusern, nichts. Man sagt den Schweden ja eine gewisse Gelassenheit nach; Sicherheitsfanatiker sind sie jedenfalls nicht, wenn man die Nicht-Kontrollen an den Flughäfen zum Maßstab nimmt. (Dafür kassiert die schwedische Airline SAS an Bord für Getränke und Snacks.)

2000 Journalisten werden zur Hochzeit von Victoria und Daniel erwartet, davon 1000 aus dem Ausland, davon wiederum 500 aus Deutschland. Dabei sind Vertreterinnen der Branche, die ganz privat hier sind, nicht mal eingerechnet!

Inzwischen ist es auch hier dunkel dunkler* geworden. Auf Schloss Drottningholm soll heute eine große Party steigen. Viel Zeit bleibt nicht: Um 3:30 Uhr heute Nacht geht die Sonne wieder auf.

(*richtig dunkel wird’s die ganze Nacht nicht)

Mainradweg: Gemischte Bilanz

“Und, wohin geht es heute?”, fragt mich ein anderer Radreisender am Morgen vor dem Gasthof in Lohr am Main, wo ich soeben die Taschen ans Rad schnalle. Es ist kalt geworden über Nacht. Ich zieh den Reißverschluss der dünnen Jacke ganz hoch, überlege nur kurz und antworte dann entschieden: “Nach Frankfurt.” “An einem Stück?”, fragt er ein wenig ungläubig, und ich sag: “Ja!”

Und zwar mit der Regionalbahn, die Frankfurt via Hanau in einer guten Stunde erreicht. Dort bin ich vor drei Tagen losgefahren, den Untermain entlang, über Aschaffenburg und Klingenberg nach Miltenberg, dann ein Stück am Mittelmain über Wertheim und Marktheidenfeld bis nach Lohr. Rund 180 Kilometer in eher ungemütlichem, teilweise regnerischen Wetter, zuletzt begleitet von Gegenwind, liegen hinter mir. Viele schöne Momente – und einige, auf die ich gerne verzichtet hätte. Die ganze Tour auf einen Blick nach dem Klick. Weiterlesen →

Lohr am Main

… ist ebenfalls einen Ausflug wert: Kuscheliges Fachwerkstädtchen mit krummen Gassen und Häusern, einem Schloss und darin ein liebevoll gestaltetes Spessartmuseum, das die Geschichte einer unwirtlichen, armen Waldregion voller Räuber erzählt (das echte Wirtshaus und Lilo Pulver kommen selbstverständlich auch drin vor). Und man erfährt von der unglaublichen Geschichte, wie aus einer Stammtischidee – Schneewittchen als gebürtige Lohrerin, die im Lohrer Schloss geboren wurde – ein tourismusfördernder Coup wurde.
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Auf dem Mainradweg: Alles fließt

Kurz hinter Aschaffenburg fang ich an zu singen und weiß: Nun bin ich wirklich unterwegs. Es ist Montag, der Himmel ist bewölkt, Regen angesagt – ich hab freie Bahn auf dem Radweg. Hat man einmal die Ausfallstraßen unterquert (es scheint wirklich keine Stadt zu geben, die nicht hässlich ausfranst an ihren Rändern), stört kaum ein Mensch mehr die Ruhe – ok, mit Ausnahme von mir. Als ich die mittelalterliche Richtstätte passiere, stelle ich meinen Singsang kurz ein – und bemerke, dass mein Vorderrad an irgendetwas schleift, ein leichter Achter, glaube ich.
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Spuren

Keine ElbvertiefungDas Alte Land liegt im Winterschlaf. Tausende von Apfelbäumen recken ihre nackten Gliedmaßen in den Himmel wie Skelette. Die Obstbauern nutzen die Zeit, um Wassergräben zu entschlicken, und hinterlassen dabei eine pechschwarze Dreckspur an den Straßen. An jedem dritten Haus ragt ein Protestschild aus dem gefrorenen Boden: “Keine Elbvertiefung – wir wehren uns”.

Seltsam: Kaum ist man auf bekanntem Terrain, geht man wie ferngesteuert die vertrauten Wege – auch wenn es andere gibt. Scheinbar ist unser Bedürfnis nach Wiedersehen, nach Wiederkennen übergroß. Und wenn sich dann etwas verändert hat – eine Gasse ist zu einer Straße herangewachsen, manche Läden, ja ganze Häuser und Restaurants sind verschwunden, neue entstanden – fühlt sich das an wie ein gebrochenes Versprechen.

ReeperbahnDie Elbe-Fähre hat ihren Betrieb eingestellt. Den Garaus gemacht hat ihr wohl die Hamburger S-Bahn, die jetzt bis tief hinein in die erste Meile des Alten Landes fährt. Ohne Umsteigen von Stade auf die Reeperbahn: Nahverkehr halt.

Fischmarkt in StadeDie knapp einstündige Fahrt bietet viel Zeit zum Gucken, in Gesichter, die nahezu allesamt – mit Ausnahme der ganz Jungen – Geschichten erzählen. Ich glaube, dass jedes tiefe Gefühl, sei es Trauer, Schmerz, Freude oder Leidenschaft, dauerhaft seinen Platz in einem Gesicht einnimmt, auch in jenen, die auf den ersten Blick einfach nur müde aussehen oder sich hinter grellen Farben verbergen. Wie man den Händen die Arbeit ansieht, die sie verrichten, so sieht man jedem Gesicht das Auf und Ab des Lebens an. So soll das sein.