Straße(n) der Kindheit – diese Idee hat Liisa aufgegriffen, und ich mache diesmal gerne mit.
Der Mühlweg war ein kurzes, abschüssiges Sträßchen, das so unpassend aus einer Kurve der Hauptstraße ragte, als habe irgendein Straßenbauarbeiter noch einen Kübel Asphalt übrig gehabt und die heiße Fracht in die nächstbeste Ecke gegossen. Der Mühlweg führte nirgendwo hin – er mündete in ein unbebautes Gelände am Rand des Dorfes, das Jahre später zum Naherholungsgebiet erklärt wurde. Für Kinder (und ihre Eltern) war die Lage ein Paradies: Wenn überhaupt mal jemand mit einem Auto in den Mühlweg fuhr, dann, weil er hier wohnte (oder jemanden besuchte). Ruhig kann es trotzdem nicht gewesen sein, denn die Bahnstrecke zwischen unserem Dorf und der Nachbarstadt verlief – ausgerechnet – quer durch unsere Straße. Noch heute bilde ich mir ein, mich an das regelmäßige Gebimmel zu erinnern, das ertönte, wenn die Schranken herabgelassen wurden, und das manchem Bewohner die Uhr ersetzt haben mag. In diesen Minuten des Tages waren wir endgültig abgeschnitten vom Rest des Dorfes: Vor uns die Bahnschranke, hinter uns freies Land.
Wir wohnten in einem Mehrfamilienhaus im dritten oder vierten Stock direkt gegenüber einem Bauernhof, und wenn ich meine älteren Brüder heute mal ärgern will, piesacke ich sie damit, dass sie ihre Kindheit in einem Kuhstall verbracht haben. (In Wahrheit bin ich nur neidisch, weil ich selbst noch zu klein war, um ebenfalls in den Ställen herumzukriechen.)
Ohnehin waren wir auf dem Sprung: Spätestens mit meinem Einzug in den Mühlweg im August 1967 wurde meinen Eltern klar, dass die Wohnung zu klein ist. Sie nahmen ihren Mut zusammen und einen Kredit auf, kauften ein Grundstück am anderen Ende des Ortes, oben auf einem Hügel, und begannen dort zu bauen. Als wir schließlich sehr viel später tatsächlich umzogen, war ich drei.
Aus dem Mühlweg nahm ich vor allem diese Erinnerung mit: Mein Vater rüttelt mich nachts aus meinen Träumen und scheucht mich aufgeregt aus dem Bett. In der Küche sehe ich meine Mutter und meine beiden Brüder am Fenster stehen, in dessen Glasscheibe ein helles Licht flackert. Ich drücke mich an den Jungs vorbei, stelle mich auf die Zehenspitzen und schaue auf die lichterloh brennende Scheune der Nachbarn. Macht euch bereit, wir müssen raus aus der Wohnung, so oder ähnlich sprach mein Vater und sah traurig auf die Scheune, in der gerade sein Fahrrad verbrannte. Und so kam es.
Die zweite Straße meiner Kindheit war – Überraschung! eine abschüssige Straße, die im Nichts endete, und umgeben von Wald und Wiesen. Hier, im Imkerweg, lernte ich rollschuh- und fahrrad- und autofahren und eine meiner bis heute besten Freundinnen kennen. Ringsherum wuchsen neue Häuser, jeder Bauplatz ein perfekter Abenteuerspielplatz, und mit jeder Familie kamen neue Mitspieler dazu. Das Leben spielte draußen, zwischen Bauschutt und Waldrand, mit gefangenen Grashüpfern und aus dem Tümpel gefischten Kaulquappen, die im Glas erwachsen werden mussten, bevor wir sie wieder hüpfen ließen.
Der Imkerweg war der Grund, auf dem wir unsere Welten malten – in regenarmen Sommern fand sich bald kaum noch ein schwarzer Fleck zwischen all den kreidebleichen Straßen und Kreuzungen und Parkplätzen und Schildern und Ampeln und Sonnen und Monden und Vögeln und Tigern. Und Hüpfkästen. Vor allem Hüpfkästen! Ein Leben in Himmel und Hölle, zwischen denen wir sorglos hin- und hersprangen, bis irgendjemandem einfiel, dass gerade eine neue Folge von Roots im Fernsehen anfing – dann erst stoben wir auseinander.
Kreide war damals das wichtigste Werkzeug. Einmal fraß ich sie sogar. Aber nur, weil ich die weißen Bröckchen, die mir ein Nachbarsmädchen reichte, für Traubenzucker hielt. Ich sagte artig danke und schob sie in den Mund.
Ihr Blick war wirklich sehenswert.
Nur ein einziges freies Grundstück war nach Jahren übrig geblieben, eine kleine unbebaute Fläche ganz unten am Ende der Straße – unser Bolzplatz. Wir nannten uns 1. FC Biene (folgerichtig), und meistens stand ich im Tor (folgenreich). Bis der Nachbar, dessen Haus unmittelbar an unser lärmendes Heimstadion grenzte, das Grundstück kurzerhand aufkaufte und einen Zaun drumherum zog.
Vor einigen Jahren kam ich noch einmal zurück in den Imkerweg. Ich zog für ein paar Monate in die Straße und das Haus meiner Kindheit – eine Übergangslösung, um mich neu zu sortieren. In dieser Zeit hörte ich nachts lautes Rufen auf der Straße. Ich zog mich an, trat hinaus in das typische Halbdunkel einer Anliegerstraße, in der die sparsame Gemeinde nur jede zweite Laterne brennen lässt, und lauschte. Die Rufe kamen aus dem letzten Haus unten an der Straße – dem Haus, in dem noch immer der Nachbar wohnte, der uns damals unseren Fußballplatz abspenstig gemacht hatte. Die Nachbarschaft hatte mich vorgewarnt: Der Mann, dement mittlerweile, schrie jede Nacht aus Leibeskräften, aber er rief nicht um Hilfe: Er schimpfte! Manche Dinge ändern sich nie, sagte ich mir, trat an den alten Holzzaun, der unseren Bolzplatz umgab, und prüfte ganz rechts unten zwei Latten. Sie waren noch immer lose.
Kaum zu glauben, daß ich es mit diesem Eintrag geschafft habe, Dich mal zur Teilnahme zu bewegen. ;o) Nein, im Ernst, ich hab mich sehr gefreut! :)
Wunderschön geschrieben, sehr interessant. Ich hab’s auch gemacht :-)
Ich lache micht immer noch schief über den 1.FC Biene!!! :))
Und ich dachte, dass nur der böse Wolf die Kreide frißt!
Schöne Geschichte :-) Ich hoffe mit zunehmendem Alter kommen noch mehr Erinnerungen wieder. So frühe Erinnerungen (3 Jahre alt!) habe ich gar nicht. Lieben Gruß
Ich wundere mich selbst, dass ich an diese ersten drei Jahren teilweise recht intensive Erinnerungen habe… Sie sind wie Schlaglichter, die nur ganz kurz eine Szenerie erhellen, bevor es wieder dunkel wird.
Wie schön es ist ein Zuhause zu haben. Welch schöne Erinnerungen.