“Liebe Heba, die Scharia, wie sie in vielen muslimischen Ländern praktiziert wird, ist nicht mit der Universellen Menschenrechtserklärung vereinbar. Sie stellt eine Quelle der Ungerechtigkeit dar, die den Islam entwürdigt und Muslime beschämt, die sich an eine barmherzige Interpretation ihres Glaubens halten. … Der Islam, wie islamistische Intellektuelle ihn sehen, ist nur ein Strafgesetzbuch, und ein islamistischer Staat eine Strafkolonie, die den “reinen” Islam erzwingt.”
“Lieber Emran, die Scharia ist der ideale Weg, um Menschenrechte zu verwirklichen. Verstöße gegen die Menschenrechte in muslimischen Ländern, deren Regime von westlichen Allierten unterstützt werden, haben nichts mit der Scharia zu tun. …
Die islamischen Grundwerte sind Gerechtigkeit und persönliche Freiheit. Sie bedrohen aber westliche wirtschaftliche Interessen, wenn muslimische Gesellschaften nach wirtschaftlicher Unabhängigkeit streben. Wenn der Islam hingegen auf eine individuelle Dimension eingeschränkt wird, wie Du es vorschlägst, dann verliert der Islam seinen Kern als fortschrittliche soziale Befreiungstheologie mit der Vision einer gerechten Gesellschaft.”
“Liebe Heba, die Scharia mag in ferner Zukunft zwar eine positive Kraft für Veränderung sein, aber für mich symbolisiert sie all das, was in der muslimischen Welt schief läuft. Die heute praktizierte Scharia illustriert Ungerechtigkeit und verneint menschliche Freiheiten.”
“Lieber Emran, ich schränke die Scharia nicht auf eine politische Ideologie ein, sondern betrachte sie als eine Lösung. Dies umfasst die öffentlichen und privaten Sphären und basiert auf zivilen und individuellen Werten. … Die Missbräuche in Nigeria oder Pakistan sind nicht zu leugnen, aber in diesen Fällen ist die Scharia manipuliert worden. Gräueltaten kommen auch in nicht-muslimischen Ländern vor, in denen andere kulturelle und religiöse Werte als die der Scharia missbraucht werden. Wir dagegen müssen besser verstehen, warum Menschen Gewalt anwenden. Sonst fahren wir fort, Muslime und ihre Kulturen als barbarisch und die Scharia als Wurzel allen Übels zu betrachten.”
“Liebe Heba, mir fällt auf, dass die Islamisten ihre Weltanschauung unverändert als Reaktion auf den Westen definieren. Daraus folgt, dass der Islamismus ein Nebenprodukt der Globalisierung ist.”
“Lieber Emran, leider stimmt es, dass der Islam missbraucht wird. Aber auch Liberale oder Sozialisten missbrauchen ihre Ideologien. In unserem globalen Zeitalter müssen wir uns über Ideologien, Religionen und Kulturen hinwegsetzen und uns gemeinsam vor Extremisten jeder Art schützen.”
Der ganze Briefwechsel zwischen dem Journalisten Emran Qureshi und der Politologie- und Wirtschaftsdozentin Heba Raouf Ezzat: Welchen Weg weist die Scharia?