Eigentlich wollte ich das Buch gar nicht lesen. Ich konnte nie so recht etwas anfangen mit Christoph Schlingensief. Seine Aktionen fand ich oft eher verstörend, vermutlich eben, weil sie irgendwie entlarvend waren – diese Ausländer-raus-Sache mit den Asylbewerbern im Container kann ich mir bis heute nicht ansehen, ich würd’ mich nur aufregen. Und die Operninszenierungen sind vermutlich einfach zu kompliziert für mich.
Vor ein paar Tagen habe ich das Buch dann doch mitgenommen, als ich nach dem Weihnachtsmarktbesuch noch im Buchladen auf der Neuen Kräme war: “So schön wie hier kann’s im Himmel gar nicht sein”, Christoph Schlingensiefs Krebstagebuch. Eine Diagnose, eine Krankheit, ein Schlag wie aus dem Nichts, und das Leben ist von einem auf den andern Moment auf den Kopf gestellt. Leben im Ausnahmezustand. Warum lese ich sowas? Kenne ich das nicht?
Nein, ich kenne das nicht. Was ich kenne oder zu kennen glaube, ist die andere Seite, die Sicht der Angehörigen. Ich hab am Bett nur gesessen und nicht selbst drin gelegen. Die Katastrophe zwar aus nächster Nähe, aber dennoch aus sicherer Entfernung erlebt. Ja, schon: Auch das Mitansehen, Mitfühlen, Mitfürchten ändert das Leben schlagartig. Damals konnte ich buchstäblich hören, wie das Klack-Klack der Uhren langsamer wurde. Wie die Zeit sich dehnte, und der Raum von allen Seiten her kleiner wurde, bis es nur noch Drinnen gab und kein Draußen mehr. Ich war zwar drin in diesem Raum, dem allerkleinsten Kreis, aber ich stand eben doch nur daneben, habe die Schläge nur mittelbar gespürt. Und irgendwann tickte meine Uhr wieder im normalen Tempo, während eine andere stehengeblieben war.
Zuhause schlage ich das Buch auf, und weil ich noch immer Schlingensief, den Provokateur, im Kopf habe, einen, mit dem ich nichts gemeinsam habe außer manchmal beim Aufwachen die Haarfrisur, erwarte ich spektakuläre, laute, tobende, anmaßende Sätze. Die gibt es auch. Doch was da aus dem Buch vor allem zu mir spricht, ist ein leiser, unendlich trauriger kleiner Junge, der nicht versteht, warum ihm all das passiert. Der sich immer wieder fragt, was er denn falsch gemacht hat, und der, obwohl er “im Kern” weiß, dass es keine Frage von Schuld ist, seinen Lebensstil rechtfertigt (seit 20 Jahren Nichtraucher!). Einer, der mit Gott, Jesus und Maria spricht, mit ihnen ringt und schimpft und versöhnt. Einer, der sich zärtlich an seinen Vater erinnert und jetzt, Jahre nach dessen Tod, endlich versteht, was den Vater so depressiv machte. Und einer, der schmerzlich bedauert, dass er nie erleben wird, wie es sich anfühlt, wenn beide Eltern tot sind und man ganz allein steht in der Welt.
“Im Kern” ist eine Formulierung, die Schlingensief in dem Buch und sicher auch in seinem Alltagsleben oft benutzt hat. Ein Suchender, der zum Kern vorstoßen will, auch wenn es wehtut. Das Krebstagebuch beginnt er Anfang 2008 mit der ersten Diagnose, es geht bis Dezember desselben Jahres, als nach Operation, Chemo und Bestrahlung erneut Metastasen auftauchen. Es endet mit dem Satz “Und jetzt fahren wir gleich los”, und man hat fast ein schlechtes Gewissen, weil man im Gegensatz zum Autor in diesem Moment weiß, die Fahrt zur Untersuchung wird kein gutes Ende nehmen. Ein halbes Jahr später wird Christoph Schlingensief seine Freundin Aino heiraten, über die er im Buch viel schreibt. Und wiederum ein Jahr später wird er tot sein.
Das gedruckte Tagebuch also endet im Dezember 2008, aber Schlingensief hat danach noch gebloggt, hauptsächlich über seine Arbeit, seine Projekte, das Opernhaus in Afrika, die Inszenierung “Kirche der Angst vor dem Fremden in mir”. Der letzte Eintrag stammt vom 7. August, gerade mal vier Monate ist das her.
Wie fühlt man sich, wenn man den Tod vor Augen hat? Ich weiß es immer noch nicht (und das ist weiß Gott ein Privileg), aber ich habe eine vage Ahnung davon bekommen. Gestern sah ich in der Schirn Kunsthalle ein Bild von Gustave Courbet, es ist dasselbe Bild, das das Plakat zu dieser im übrigen sehr empfehlenswerten Ausstellung ziert, es heißt “Selbstbildnis am Abgrund”. Courbet malte sich in nackter Panik, die eine Hand rauft die Haare, der Körper scheint über einem Nichts zu schweben, hin- und hergerissen zwischen der Angst vor dem Fallen – und dem freiwilligen Sprung. Ich musste an Schlingensief denken, als ich sah. Im Kern ist es doch ein vertrautes Bild.