Regina McCombs wirkte verwundert. Die Journalisten-Ausbilderin vom Poynter Institute hatte soeben einer Schar von knapp 100 deutschen Redaktionsleitern, Chefredakteuren und Online-Journalisten im Institut für praktische Journalismusforschung im bitterkalten Leipzig einen Überblick gegeben über die Crossmedia-Strategien amerikanischer Zeitungsverlage. Sie hatte einige Beispiele mitgebracht, die man hierzulande lange suchen muss:
Talking to the Taliban , eine Multimedia-Reportage der kanadischen Zeitung The Globe and Mail:
13 seconds in August: Die Star Tribune in Minneapolis (bei der McCombs Multimediaredakteurin war) lokalisierte auf einem Satellitenfoto die Menschen, die sich im Sommer 2007 beim Einsturz auf der Mississippi-Brücke aufhielten, und besuchte sie mit der Videokamera
Is it besser to buy or to rent? Eine interaktives Tool für die Immobilien-Finanzplanung:
Regina McCombs hatte berichtet, mit welcher Selbstverständlichkeit sich US-Kollegen in den neuen Medien bewegen, mit wie viel Entdeckerlust viele von ihnen die Möglichkeiten nutzen, die soziale Netzwerke, Twitter, Blogs für sie selbst und ihre Arbeit bieten (Colonel Tribune, Jason DeRusha). Wie Accounts bei Facebook jenseits der Standard-Anmutung aussehen können (Minnesota Daily). Was Apps an Mehrwert bieten können (Indystar). Welche Ideen für lokale Angebote es gibt (Tampabay, Sunlight Labs)
Und dann, nach ihrem durchaus inspirierendem Vortrag, hörte sie dies: “Aber all das kostet doch Zeit!”
Joah. Stimmt. Is so.
Man stelle sich kurz vor, dies sei keine Journalistentagung, sondern ein Chirurgenkongress. Und auf einen kurzen Abriss der modernen Technologien in der Mikrochirurgie würde der Einwand folgen: Fein, ja, aber hey: Eigentlich habe ich nicht die Zeit, mich damit zu beschäftigen.
Berufsbilder ändern sich. Alle. Vielleicht sind Blogs, Twitter, Facebook (oder welcher Dienst auch immer den nächsten Hype prägen wird) tatsächlich nicht die richtigen Plattformen für die eigene Arbeit – mag sein. Aber um das zu beurteilen, sollte man diese Werkzeuge zumindest kennen. Von gestandenen Kollegen hörte ich neulich, Web 2.0 sei ein Sumpf, in den man sich am besten gar nicht erst hinein begebe. Dabei ist das schon immer unser Job gewesen: die Spreu vom Weizen, die relevanten Informationen vom Blabla zu trennen.
Regina McCombs hatte ein paar Empfehlungen für ihre deutschen Kollegen im Gepäck:
- Vergrößert eure Kenntnisse und Fähigkeiten. Lernt. Setzt Menschen in eure Newsrooms, die es verstehen, den richtigen Kanal zu finden und Stories medienübergreifend zu erzählen.
- Kommuniziert ernsthaft mit euren Lesern. Dafür gibt es viele Wege. Wählt euch die passenden aus.
- Findet eure Nische. Fragt euch: Was nutzt den Usern, besonders jenen in unserer Gegend? Befasst euch mit Geo-Kodierung, entwickelt lokalisierbare Inhalte. Sorgt dafür, dass eure interaktiven Inhalte leichter gefunden werden.
- Stellt euch auf mobile Dienste ein. Entwickelt attraktive Angebote. Spätestens 2020 wird das der dominierende Weg ins Web sein.
- Kümmert euch um Branding. Nicht nur für das Medienunternehmen, sondern auch für den einzelnen Journalisten.
- Habt keine Angst vor der Feststellung: Wir sind keine Zeitung mehr. Hört auf, so zu handeln, als wärt ihr nur ein Printmedium.
- Nehmt euch die Zeit für all das. Sonst läuft sie für euch ab.
Bookmark-Sammlung “Best Practices” – Weitere Beispiele für Multimedia-Journalismus
Sehr schöne Zusammenfassung. Ich denke auch, dass viel zu viele Verlage und Zeitungen – leider noch immer – der Meinung sind, dass sie das Thema Internet und Web2.0 irgendwie aussitzen können.. ;-)