Für Skandale war nicht nur Johann Wolfgang Goethe gut. Noch bevor der Sohn im fernen Weimar seine wilde Ehe mit Christiane Vulpius begann, stürzte sich seine Mutter Katharina Elisabeth in Frankfurt in eine Liaison mit einem sehr viel jüngeren Mann. Mochte die Frankfurter Gesellschaft noch so die Nase rümpfen – um Frau Aja, wie Goethes Mutter von dessen Freunden genannt wurde und sie selbst viele ihrer Briefe unterschrieb, war es geschehen, als sie den jungen Mann das erste Mal erblickte. Altersunterschied hin oder her.
Karl Wilhelm Ferdinand Unzelmann kommt 1784 als Schauspieler an den Main, um hier zu arbeiten. Er ist 31 Jahre alt, hat bereits erfolgreich auf einigen deutschen Bühnen gestanden und gewinnt mit seinen Auftritten am Frankfurter Komödienhaus offensichtlich auf Anhieb das Herz der theaterbegeisterten 53-jährigen Katharina Elisabeth Goethe, seit drei Jahre Witwe.
Ihr Faible für die Schauspielerei ist legendär. Sie versäumt kaum eine Vorstellung. Noch heute erinnert man sich in Frankfurt an eine Anekdote, die Bettina von Arnim damals notiert: Als die Besucherplätze bei warmem Wetter einmal nur zur Hälfte besetzt sind, habe die Frau Rat zur Bühne gerufen: “Sie können anfangen. Ich bin da.” Und sicher ist es kein Zufall, dass sich Katharina lisabeth später, nachdem sie das Haus am Hirschgraben verkauft hat, für eine Wohnung am Roßmarkt entscheidet – in unmittelbarer Nachbarschaft zum damaligen Schauspielhaus.
Am 19. April 1784 hat Karl Wilhelm Ferdinand Unzelmann sein Frankfurter Debüt als Schauspieler. Im Publikum, wie immer: Katharina Elisabeth Goethe. Offenbar verliebt sie sich augenblicklich in den 22 Jahre jüngeren Mann. Man darf davon ausgehen, dass der Altersunterschied ihr nicht allzu viel Kopfzerbrechen bereitet hat: Sie selbst war 17, als sie 1748 mit dem 38-jährigen Johann Kaspar Goethe verheiratet wurde.
Die Witwe Goethe sucht die Nähe des jungen Schauspielers. Unzelmann macht es sich “zur Gewohnheit, nach jeder Darbietung zu ihrer Loge hinaufzuschauen”, schreibt Silke Wustmann in “Frankfurter Liebespaare”. Heiraten indes wird er im Jahr darauf eine andere: die 17-jährige Stieftochter des Theaterdirektors Großmann, Friederike Bethmann. Den Kontakt zur Frau Rat hält er dennoch aufrecht – sie ist nicht die einzige Affäre, wie es scheint. Unzelmanns junge Gattin jedenfalls glaubt, viele Gründe zur Eifersucht zu haben:
Er flatterte und flunkerte überall umher, war alltäglich verliebt und allwöchentlich in eine andere, endlich sogar in die Frau Rat, die Mutter Goethes, die ihn so beherrschend gängelte, dass ich nichts ohne ihren Einfluss tun durfte. Ich war eine siebzehnjährige unbedachtsame Frau, eitel auch, und meinte: Zieht er dir eine vor, die hübscher ist als du, so wäre das zu begreifen, aber die Frau Rat!
Einfluss verschafft sich Katharina Elisabeth unter anderem durch finanzielle Zuwendungen. Unzelmann hat Schulden. Goethes Mutter hilft immer wieder aus, macht Geschenke, bezahlt seine Möbel. Und sie versucht, zu schlichten, wenn der egozentrische Schauspieler wieder einmal Streit im Theater hat. Als die Auseinandersetzungen im Ensemble eskalieren, schmeißt Unzelmann hin. 1788 verlässt er mit seiner Frau die Stadt in Richtung Berlin, wo er sich einen neuen Job verschafft hat. Er geht ohne Abschied. Katharina Elisabeth Goethe bleibt zurück – bitter enttäuscht und mit gebrochenem Herzen.
Dann flattert ihr eine hilflos wirkende Depesche aus Berlin ins Haus:
Oh Elisabeth, was habe ich getan!
Doch Elisabeth will nichts hören, nicht auf seine Rückkehr hoffen. Ihre Antwort fällt deutlich aus:
Oh! Täuschen Sie mich nicht wieder! Oh! Blasen Sie nicht den toten Funken wieder an – überlassen Sie mich lieber meinem Gram, der eine solche Höhe erstiegen hat, wo schwerlich was drüber geht. Bei einem Gewitter verkündigt doch der Donner die Annäherung des Blitzes – aber hier war Blitz und Schlag so eins, dass mich’s ewig wundern wird – dass mich meine Lebensgeister nicht den Augenblick alle verließen.
Ich weiß wahrlich nicht, ob ich nach so vielen vorhergegangenen Täuschungen, fehlgeschlagenen Erwartungen, mein Herz der Hoffnung, die mich so oft, so unendlich oft hintergangen hat, ob ich dieser Betrügerin es je wieder öffnen soll: oder ob es nicht besser ist, sie ganz zurückzuweisen, keinen Strahl davon mehr in die Seele kommen lassen und mein voriges Pflanzenleben wieder anzufangen – ich sage es noch einmal – ich weiß es nicht.
Schon im 18. Jahrhundert gilt: Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen. Die Frankfurter Gesellschaft zerreißt sich das Maul über die verlassene Witwe. Sie, die sich sonst kaum um das Gerede anderer Leute schert, die keinerlei Probleme damit hat, dass ihr Sohn ohne Trauschein mit Christiane Vulpius und dem gemeinsamen Sohn zusammen lebt – jetzt spürt sie schmerzhaft die spöttischen Blicke.
Die Qual, die ich jetzt leide, ist unaussprechlich – da begegnen mir auf allen Ecken von dem verwünschten Volk, und machen jede Rückerinnerung neu, reißen durch ihren basilisken Blick jede Wunde auf – suchen und spähen, ob in meinen Augen Traurigkeit wahrzunehmen ist – um vielleicht daran ein Gaudium zu haben – und wenn ich an die Messe denke, auf die ich mich sonst so kindisch freute, wie das Großmaul, die St., mit Schadenfreude auf mich blicken wird – und ich mich in dem Punkt so wenig verstellen kann; so weiß ich nicht, was ich tun oder lassen soll.
Aber eins weiß ich – das Otterngezüchte soll aus meinem Haus verbannt sein, kein Tropfen Tyrannenblut soll über ihre Zungen kommen – keine Hand will ich ihnen zur Ehre, oder zur Ermunterung rühren – kurz allen Schabernack, den ich ihnen antun kann, will ich mit Freuden tun – räsonnieren will ich, Bürgers Frau Schnips soll ein Kind gegen mir sein – denn Luft muss ich haben, sonst ersticke ich …
Es gehen noch viele Briefe zwischen Berlin und Frankfurt hin und her. Unzelmann erwägt sogar eine Rückkehr an den Main. Die Frau Rat reagiert erschrocken, schreibt ihm am 16. März 1788:
Vor Ihrem Herkommen fürchte ich mich – Sie können leicht begreifen warum!!! Morgen lasse ich Brandbriefe an all meine saumseelige Schuldner ergehen – und dann wird Ihrer gedenken
Ihre Elisabeth.
N. S. An die Frau Gevatterin meinen freundlichen Gruß.
Am Ende ist es die Aussicht, seine Gläubiger wieder zu treffen, die Unzelmann aus Frankfurt fernhält. Auch bei der Frau Rat hat er Schulden, deren Begleichung sie im Laufe der Zeit offenbar mit zunehmender Vehemenz einfordert. Einmal noch – 1805, zwei Jahre nach seiner Scheidung von Friederike – kommt der Schauspieler für ein Engagement nach Frankfurt. Katharina Elisabeth Goethe notiert:
Herr Unzelmann hat hier ohne Beifall drei Rollen gespielt, und das ganze Publikum wünschte ihm eine glückliche Reise.
Aller Enttäuschung zum Trotz: In der Rückschau auf die gemeinsamen Jahre in Frankfurt zieht sie ein positives Fazit, schreibt ihm im Dezember 1788:
Das war die glücklichste Zeit, in meinem ganzen Leben – Aber dahin ist sie geflohen, die goldne Zeit. (…) Nun leben Sie wohl, lieber Freund! Möge Ihr Glück in Berlin recht groß und glänzend und von fester Dauer sein. Erfreuen Sie mich von Zeit zu Zeit mit guten Nachrichten, und glauben, dass weder Entfernung noch Zeit Ihr Andenken erlöschen wird, bei
Ihrer Freundin Elisabeth.
Am 13. September 1808 stirbt Katharina Elisabeth Goethe. Karl Unzelmann lebt bis zu seinem Tode am 21. April 1832 in Berlin. Fast 100 Jahre nach dem Tod der Frau Rat fällt 1902 im Schauspielhaus am Frankfurter Theaterplatz zum letzten Mal der Vorhang. Die Abschiedsvorstellung: Goethes Iphigenie auf Tauris.
Hier musste ich – um 5:30 Uhr – lauthals schallend loslachen: “Herr Unzelmann hat hier ohne Beifall drei Rollen gespielt, und das ganze Publikum wünschte ihm eine glückliche Reise.”
:)