Vor wenigen Jahren geriet die ostwestfälische Kreisstadt Höxter in die Schlagzeilen. In einem Mietshaus im Ortsteil Bosseborn (das die Boulevardpresse, als sei alles noch nicht grausig genug, das „Horrorhaus von Höxter“ nennt) sollen ein Mann und seine frühere Ehefrau mehrere Frauen festgehalten und schwer misshandelt haben. Zwei der Opfer starben. Der Prozess läuft noch.
Es ist nicht der erste lokale Kriminalfall, der weit über die Region hinaus von sich reden macht. Unweit von Bosseborn geschah gut 230 Jahre zuvor ein Mord, der in die Literaturgeschichte eingehen sollte: Ein jüdischer Händler wird erschlagen, der mutmaßliche Täter flieht, kehrt 23 Jahre später zurück – und erhängt sich an eben jenem Baum, an dem die Mordtat geschehen war, der „Judenbuche“.
Unter diesem Titel wird die Erzählung, in der Annette von Droste-Hülshoff den Kriminalfall aufgreift und umformt, weltberühmt.
Annettes Familie war in den Fall involviert
Die Einzelheiten des Falles kennt die Autorin aus gut unterrichteter Quelle, ist er doch mit ihrer Familiengeschichte eng verknüpft: Ihr Urgroßvater Carspar Moritz von Haxthausen hatte zum Zeitpunkt des Mordes im Jahr 1783 als Gutsherr die örtliche Gerichtsbarkeit inne und war in die Untersuchung involviert, ihr Großvater Werner Adolf von Haxthausen ist in dieser Funktion, als der geflohene mutmaßliche Täter im Jahr 1806 zurückkehrt. Da ist Annette gerade neun Jahre alt.
Zwölf Jahre später, im Jahr 1818 – Annette hält sich gerade erneut bei ihrer Verwandtschaft mütterlicherseits auf dem Bökerhof auf – veröffentlicht ihr Onkel August von Haxthausen die „Geschichte eines Algierer-Sklaven“ auf Grundlage der Gerichtsakten. Auf ihr beruht die Droste-Erzählung “Ein Sittengemälde aus dem gebirgigten Westphalen”, die – vom zuständigen Redakteur mit dem eingängigeren Titel “Die Judenbuche” versehen – erstmals 1842 als Fortsetzungsgeschichte im “Morgenblatt für gebildete Leser” erschienen ist.
In unserer Zeit geht den wahren Begebenheiten und Orten unter anderem der Lokalhistoriker Horst-Dieter Krus aus Bellersen nach – jenem „Dorf B.“ in der Novelle, aus dem der Mörder stammte. Auf seinen Recherchen basiert unter anderem eine empfehlenswerte (Rad-)Tour auf den Spuren des historischen Falles, der auf literaturlandschaften.de zu finden ist. Einige Schauplätze habe ich mir unlängst vor Ort angesehen. Vielleicht möchtet ihr mich auf den Spuren dieses Verbrechens begleiten?
Der Tatort
An einem Nachmittag im Februar des Jahres 1783 ist der jüdische Händler Soistmann Berend zu Fuß auf dem Weg von Bökendorf in sein Heimatdorf Ovenhausen, als er zwischen den Gärten am Ortsrand zufällig auf Förster Schmidts trifft. Berend, genannt Pinnes, lässt sich Feuer für seine Pfeife geben, die Männer wechseln ein paar Worte. Der Händler hat an diesem Tag einen Prozess gegen einen säumigen Schuldner gewonnen.
Der Förster gibt dem Händler, der einige Kilometer Fußmarsch durch den Wald vor sich hat, noch einen guten Rat mit auf den Weg:
Wenn du noch na Huse wust, so mak dat du vor der Dunkelheit dörch’t Holt kümmst, de Nacht meint es nich gut med den Minschen.
In der Nacht nämlich, so weiß jeder damals, wimmelt es in den Wäldern von so genannten Holzfrevlern. In großen Gruppen ziehen sie aus den Forst und fällen Bäume, um sie als Baumaterial zu verwenden oder zu verkaufen. Ganze Schneisen werden des Nachts geschlagen, und Förster wie Wald-Eigentümer – herrschaftliche Familien der umliegenden Güter wie Annettes adlige Verwandte – müssen dem Tun nahezu hilflos zusehen.
Soistmann Berend überlebt diese Nacht tatsächlich nicht. Er wird zwei Tage später im Wald zwischen Bökendorf und Ovenhausen gefunden, erschlagen unter einer Buche im Waldgebiet Joelskamp.
Doch es ist kein Zusammentreffen mit Holzdieben, die ihn das Leben kostet.
Sein Mörder, so gilt schnell als ausgemacht, heißt Hermann Georg Winckelhan (auch Johannes oder Winkelhannes genannt), ein Knecht aus dem nahen Dorf Bellersen. Er war der säumige Schuldner, der von dem Händler Stoff gekauft hatte, ohne dafür zu zahlen. Nach der verlorenen Gerichtsverhandlung soll der wütende Winckelhan öffentlich gedroht haben, seinen Widersacher „kalt“ zu machen. Förster Schmidts hatte den Bauernknecht am selben Tag dabei beobachtet, wie er mit einem abgebrochenen Ast in den Wald verschwand – in derselben Richtung, in die später auch Soistmann Berend ging. Einen blutverschmierten Knüppel fand man später in der Nähe der Leiche.
Die Flucht
Die Last der Indizien, die auf den Winkelhannes deuten, ist erdrückend. Gerichtsdiener erscheinen bald an seinem Elternhaus in Bellersen, um ihn festzunehmen. Doch er kann fliehen, entkommt durch den Garten, verschwindet aus dem Dorf und wird 23 Jahre lang nicht mehr gesehen. Die Tat bleibt ungesühnt.
Mitglieder der jüdischen Gemeinde werden beim Gutsherrn von Haxthausen vorstellig und bitten darum, hebräische Schriftzeichen in den Baum ritzen zu dürfen, an dem ihr Glaubensbruder ermordet wurde. Die Botschaft, die der Rabbiner in die Rinde schnitzt, richtet sich an den Täter: Gott werde ihn finden, und er werde keines rechten Todes sterben. Annette von Droste formulierte die Inschrift in ihrer Novelle so: “Wenn du dich diesem Orte nahest, so wird es dir ergehen, wie du mir getan hast.”
Die Rückkehr
Im Jahre 1806 taucht ein Unbekannter in Bellersen auf – wie sich herausstellt, ist es Hermann Georg Winckelhan, der damals entflohene mutmaßliche Mörder. Der von jahrelangen Misshandlungen und Knochenbrüchen entstellte Mann, der offensichtlich in der Fremde ein schweres Schicksal fand, dauert die Leute im Dorf. Und auch Werner Adolf von Haxthausen, der inzwischen die Zuständigkeit als Ortsrichter von seinem Vater übernommen hat, mag den Bedauernswerten nicht mehr belangen. Der Gutsherr lässt sich stattdessen seine Geschichte erzählen: Nach der Flucht hatte sich Winkelhannes nach Holland durchgeschlagen, als Matrose verdingt, war in die Hände von Seeräubern geraten und nach Algerien verschleppt worden, wo man ihn jahrzehntelang versklavte. Nach der Befreiung christlicher Sklaven aus algerischer Gefangenschaft durch Jérôme Bonaparte im Jahre 1806 kehrt er in seine Heimat zurück.
Dort kommt der Zurückgekehrte nicht recht auf die Beine. Ein paar Monate hält er sich mit Betteln über Wasser, verdient sich ein paar Kröten, indem er den Kurgästen im nahen Driburg gegen Bezahlung seine abenteuerliche Geschichte erzählt.
Schließlich bittet er den Gutsherrn um eine Arbeitsstelle. Der aber mag einen Mörder nicht einstellen.
Im September 1806 erhängt sich Hermann Georg Winckelhan an der „Judenbuche“ am Joelskamp. Es scheint, als hätte sich die Prophezeiung der jüdischen Gemeinde erfüllt.
Der Gutsherr sorgt dafür, dass Winckelhan nicht auf einem Schindanger verscharrt wird, sondern eine Ruhestätte an der Kirche von Bellersen bekommt. Dort liegt er bis heute begraben, an einer unbekannten Stelle.
Der Baum, an dem Mord und Selbsttötung geschahen, wird zwei Jahre nach dem Suizid gefällt.
Bereits der historische Kriminalfall ist bemerkenswert. Für ihre darauf basierende Novelle hat Annette von Droste den Stoff so vielschichtig ausgestaltet, dass er zu einem literarischen Meisterwerk wurde. Sie zieht doppelte Böden ein, spickt den Text mit Mehrdeutigkeiten, legt en passant widersprüchliche Fährten. Bis zuletzt bleiben Zweifel ob der Schuld von Friedrich Mergel, wie der Winkelhannes in der “Judenbuche” heißt. Und die Autorin will uns diese Zweifel nicht nehmen. Ist die Sache wirklich so klar, wie sie scheint? Oder sind es doch nur Vorurteile, die unser Urteilsvermögen (ab-)lenken?
Annette von Droste-Hülshoffs einziges vollendetes Prosa-Werk ist millionenfach gedruckt, in etliche Sprachen übersetzt, verfilmt und vertont. Und, tätäää! – nun liegt die “Judenbuche” auch als Graphic Novel vor. In Kürze mehr darüber!