Mit der Hoffnung auf ein besseres Leben gehen viele von ihnen an Bord des Schiffes. Als es sinkt, mitten auf dem Meer, kämpfen sie verzweifelt ums Überleben – doch für die meisten gibt es keine Rettung. Sie ertrinken oder erfrieren im kalten Wasser. Vergessen werden sie nicht: Die Welt nimmt an ihrem Tod Anteil. Noch 100 Jahre später wird sie das tun.
Oh, Sie dachten womöglich, es ginge hier um die Menschen, die in diesen Tagen auf das Mittelmeer wagen, weil sie in Europa auf eine Chance zum Überleben hoffen, und vor den Toren dieser Festung, in der wir uns eingerichtet haben, den Tod finden? Nein. Es geht um die Opfer des Untergangs der Titanic. In Speyer ist derzeit eine Ausstellung zu sehen, die sich dem Mythos Titanic, den Schicksalen der Passagiere und den Funden widmet, die in den letzten Jahren aus knapp 4000 Metern Tiefe vom Grund des Atlantiks geborgen worden sind. Wir wissen viel über die rund 1500 Frauen, Männer und Kinder, die der berühmte Ozeanriese mit ins Grab zog. Die meisten waren Auswanderer – einige hatten ihr Glück in einem anderen Land bereits gemacht, andere wollten es gerade versuchen.
Wir bewundern ihren Mut, die Heimat zu verlassen, um sich woanders ein besseres Leben aufzubauen. Wir sind stets aufs Neue erschüttert über ihr Schicksal. Wir widmen ihnen Bücher, Filme, Forschungsreisen, Austellungen. Über die Abertausenden, die in unseren Tagen vor Krieg, Armut, Hunger und Folterdiktaturen fliehen, wissen wir so gut wie nichts. An sie wird sich niemand erinnern.
Eigentlich wollte ich hier über meinen Ausflug nach Speyer berichten. Wollte erzählen, wie ich vergangene Woche einen freien Tag genutzt habe und Richtung Pfalz aufgebrochen bin. Es war ein wunderschöner Frühlingstag. Unterwegs habe Halt gemacht am Kloster Lorsch, das Weltkulturerbe ist und dessen Überreste in einer bemerkenswerten Lage auf dem Plateau einer mit Gras bewachsenen Flugsanddüne über dem schönen Städtchen thronen.
In Speyer ließ ich mir den Kaisersaal im Dom zeigen: Neun Fresken hängen hier, die einst das Innere des Doms zierten und um ein Haar Mitte des letzten Jahrhunderts einfach abgeschlagen worden wären, hätte es nicht einen Restaurator namens Otto Schultz gegeben, der eine Methode entwickelte, die Fresken wie Tapeten von der Wand zu rollen und an anderer Stelle wieder aufzuziehen. Nur so viel: Es war Quark dabei im Spiel!
Vom Kaisersaal aus lässt sich die Aussichtsplattform im Südturm des Doms erklettern. Die Mühe lohnt sich: Rundum-Blick über Stadt, Land und Fluss bis zu Pfälzer Wald und Odenwald. In der Ferne dampft nur noch einer der Türme des Atomkraftwerks Philippsburg, der andere ist bereits stillgelegt, und die Windkraftanlagen ringsherum künden von einer Zeitenwende.
Im Museum der Pfalz schließlich besuchte ich die Titanic-Ausstellung, wanderte wie ein staunender Passagier durch das in Teilen nachgebaute Schiff, an der berühmten Treppe vorbei, einen Gang der Ersten Klasse entlang, warf einen Blick in eine Luxuskabine ebenso wie in eine Kabine der dritten Klasse.
Die Ausstellung ist wirklich sehenswert, aber inmitten dieses schon so oft erzählten und inszenierten Dramas bin ich einfach den Gedanken an das scheinbar endlose Drama unserer Zeit nicht mehr losgeworden. Denn was unterscheidet sie eigentlich, die Bilder der ertrinkenden Flüchtlinge von heute und die der Opfer von damals? Warum sind wir vom Schicksal der einen so nachhaltig berührt, während die anderen uns allenfalls kurzzeitig aus unserer Gleichgültigkeit zu reißen vermögen?
Die Faszination der Titanic, so heißt es immer wieder, liege auch darin begründet, dass sie ein schwimmender Mikrokosmos der Gesellschaft war – von den wenig begüterten Familien in der Dritten Klasse bis zu den stein- und einflussreichen Privilegierten wie John Jacob Astor, Benjamin Guggenheim (der Vater von Peggy), J.P. Morgan, Isidor Straus (dessen Familie ursprünglich aus der Pfalz stammt – eine Tatsache, die als Verbindung des Themas mit Speyer herhalten muss und etwas bemüht wirkt) in der Ersten Klasse. Heute, mehr als 100 Jahre später, sähe ein Abbild der Gesellschaft nicht viel anders aus. Und auch die Überlebenschancen wären wohl ähnlich verteilt. Nur dass wir eben nicht mehr im selben Boot sitzen.
Wenn wir abends ins warme, weiche Bett schlüpfen, dann müssen wir nicht fürchten, vor Hunger nicht schlafen zu können. Wir frieren nicht, denn wir sind gut zugedeckt. Wir brauchen keine Angst davor haben, überfallen und ermordet zu werden, denn wir liegen in einer Wohnung hinter einer abgeschlossenen Tür und nicht in einer Wellblechhütte oder einem Pappkarton. Alles, was uns passieren kann, ist, dass wir schlecht schlafen – vielleicht weil uns echte Sorgen plagen, meistens aber doch nur, weil wir uns über Nichtigkeiten Gedanken machen oder über eine blöde Bemerkung ärgern. Nicht auf alle, aber doch auf viele von uns wartet am nächsten Tag ein Arbeitsplatz, eine Aufgabe, eine Einkommensquelle, die uns den Kühlschrank füllt und ein- oder sogar mehrmals im Jahr einen Urlaub ermöglicht.
Wer über all das auch nur einen kurzen Moment nachdenkt, wer sich bewusst macht, wie glücklich er sich schätzen kann, in der Ersten Klasse dieses Planeten zu leben, wer noch einen Funken Empathie hat und Aufmerksamkeit für das Elend, das sich in den Zwischendecks, auf all den Nussschalen ringsherum und in weiten Teilen der Welt abspielt, und wer sich Gedanken darüber macht, was unser Wohlstand mit der Armut der anderen zu tun hat – der kann sich doch eigentlich unmöglich darüber aufregen, dass das Flüchtlingsheim nebenan jetzt ein paar Menschen mehr beherbergt – oder?