Im Fieber

Selten traf es der Spruch von der durchs Dorf getriebenen Sau so gut wie beim Thema Schweinegrippe im Frühjahr 2009. Das Virus hatte in Windeseile durchweg alle Medien infiziert – eine Art Mediademie. Fieberhaft produzierten wir einen Aufmacher nach dem anderen, machten Sonderseiten, Tagesthemen, TV-Brennpunkte, erinnerten geradezu genüsslich an Millionen Tote durch die Spanische Grippe, malten düsterste Prognosen und den Teufel an die Wand. So weit, so normal. Alle paar Monate passiert das. Medienschaffende klopfen Ereignisse permanent ab auf ihre Tauglichkeit zur Skandalisierung, zur Auflagensteigerung (ein Phänomen übrigens, das meine Generation von Zeitungsleuten nur noch vom Hörensagen kennt), zum Quote-Machen. Und alle paar Monate ist ein Treffer dabei. Diesmal war’s eben ein Virus.

Irgendwie ahnte jeder: So schlimm wird das schon alles nicht kommen. Wer direkt am Ticker saß, war nicht auf Ahnungen angewiesen, sondern konnte frühzeitig wissen: So schlimm kommt es nicht. Denn in den Berichten der Nachrichtenagenturen war zu lesen, dass es in Mexiko nicht etwa 150 Schweinegrippe-Tote gab, sondern allenfalls 150 Tote, die Symptome einer (möglicherweise ganz normalen) Grippe hatten. Dass diese allesamt auf das Konto des neuen Virus namens H1N1 gehen, stand nirgends. Doch weil sich eine kleine Handvoll toter Mexikaner nur schwerlich in eine drohende Pandemie ummünzen lassen, fiel diese Klarstellung in den meisten Redaktionen unter den Tisch.

Mitunter haben wir auch Agenturtexte unverändert übernommen, obwohl sie widersprüchliche Angaben enthielten. “Der Ausbruch der Schweinegrippe in Nordamerika mit mehr als 80 Toten hat Staaten weltweit in Alarmbereitschaft versetzt”, so beginnt ein dpa-Bericht, den auch FR-online.de am 26. April publizierte. Wer sich die Mühe machte, die H1N1-Toten im nachfolgenden Text zusammenzuzählen, kam aber “nur” auf 20 – in Mexiko. In den USA gab es offenkundig weitere 20 H1N1-Krankheitsfälle, und alle schienen am Leben. Von 80 Schweinegrippe-Toten in Nordamerika plötzlich kaum eine Spur mehr. Aber immerhin: Die US-Gesundheitsbehörde “erwartet” … “weitere Erkrankungen und dabei auch ernstere Fälle als bisher”. Na also.

Einen Tag später, am 27. April, steht in einem Agenturbericht: “In Mexiko sind vermutlich mindestens 149 Menschen an der Grippe gestorben. Dies teilte der mexikanische Gesundheitsminister José Ángel Cordova am Montag in Mexiko-Stadt mit.” Man musste über diese Formulierung stolpern, denn “an der Grippe” sterben jedes Jahr weitaus mehr Menschen. Deshalb ergänzte ich den Bericht wenigstens um den Satz: “Unklar war, ob alle Todesfälle auf das H1N1-Virus zurückzuführen sind.” *

Am 29. April berichtet dpa:”Die mexikanischen Behörden haben ihre Angaben über die Zahl der Schweinegrippe-Opfer korrigiert. Insgesamt seien bisher bei 26 Menschen Infektionen mit dem mutierten Virus nachgewiesen worden, davon seien sieben gestorben”. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Nicht nur die mexikanischen Behörden korrigierten ihre Zahlen leicht nach unten – viel stärker noch mussten sich die Nachrichtenagenturen und die ihnen folgenden Medien korrigieren, weil sie vorher nicht so genau hingesehen hatten.

Jedem Medienrausch, auch das ist normales Geschäft, folgt die Ernüchterung, und für uns die Frage: Wie kommen wir aus dieser Nummer wieder raus? Wochenlang haben wir die Öffentlichkeit mit Horrorszenarien vollgepumpt – da gilt es, langsam auszuschleichen, will man nicht den Rest an Glaubwürdigkeit verlieren. Da fügt es sich gut, wenn man den schwarzen Peter einfach dem fernen Mexiko zuschieben kann. Das zeigt nicht nur, dass wir selbst nichts dafür können (wir wurden getäuscht!), sondern wirkt darüber hinaus sogar noch investigativ.

Keine Zeit zum Nachdenken. Die Meldung, dass sich in Mexiko “das öffentliche Leben wieder normalisiert”, nehmen wir am Rande noch mit. Das nächste Weltuntergangsszenario wartet schon. (Merkwürdig nur, dass die klassischen Medien über ihren eigenen Untergang so wenig berichten.)

*Ich war darauf aufmerksam geworden, weil die Tagesschau eine entsprechende relativierende Äußerung gemacht hatte. Schadet ja nichts, nicht nur bei Eskalation, sondern auch bei De-Eskalation darauf zu achten, was die Kolleginnen und Kollegen so machen. FR-online.de, für das ich arbeite, ist im übrigen ebenso mitgeschwommen auf dieser Welle wie alle anderen – inklusive der etwas grotesken Schlagzeile “Erster Grippe-Kranker in Bayern”.