Jeden Morgen, wenn ich aus dem Küchenfenster schaue, beglückwünsche ich uns zu der Entscheidung, aufs Land gezogen zu sein. Der Blick bleibt nicht mehr an den Wänden acht- oder zehnstöckiger Nachbarhäuser hängen. Er darf weit wandern: über die Dächer und den Kirchturm hinweg, über den Dorfrand hinaus, auf eine von Wiesen und Feldern überzogene Anhöhe direktemang zur aufgehenden Sonne.
Auf dem langgestreckten Rücken der Anhöhe verläuft die “Hohe Straße”. Diesem asphaltierten, einspurigen Weg, beliebt bei Spaziergängern und Radfahrern, sieht man nicht an, dass er einst Teil der “Cölnischen Hohen Heer- und Geleitstraße” war, eine der wichtigsten Verbindungen zwischen Frankfurt und Köln aus vorrömischer Zeit.
Wir sind im westlichen Untertaunus, wo das Mittelgebirge gefällige Wellen wirft. Eine Landschaft wie das Leben: Ein gemäßigtes Auf und Ab, das einen an manchen Tagen mehr herausfordert als an anderen, und wo man mitunter unerwartet auf einen schroffen Abgrund stößt, eine felsige Wand oder einen besonders steilen Aufstieg. Das am weitesten verbreitete Fahrzeug neben dem Auto ist hier das E-Mountainbike.
Die aufgehende Sonne dimmt den Horizont langsam heller, verwandelt die Grautöne der Landschaft erst in zartes, dann in kräftiges Grün. Bevor sie über den Hügel schaut, färbt sie manchmal den Horizont lila oder bringt die Wolken in allen erdenklichen Rottönen zum Glühen. Schließlich blinzelt sie über die Kuppe. Kurze Zeit später ist unser Frühstückstisch ins Licht der Morgensonne getaucht.
Hinter der Anhöhe zeichnen sich in dunklerem Grün die Wipfel der Bäume ab. Ausgedehnte Wälder ziehen sich von hier bis zum Großen Feldberg. Die höchste Erhebung im Taunus liegt ziemlich genau auf halbem Wege zwischen unserem neuen und unserem alten Wohnort.
Vom großen Dorf ins kleine Dorf
Spektakuläre Sonnenaufgänge kann man natürlich auch in Frankfurt erleben. Wir haben gerne in dieser Stadt gewohnt – auch, wenn sich das Leben dort allein in den letzten zehn Jahren spürbar verändert hat. Es ist rammelvoll geworden – überall. Um Parkplätze herrscht ebenso ein Hauen und Stechen wie um bezahlbare Wohnungen. Oh, es wird gebaut – wie verrückt! Aber vor allem hochpreisig. Die Skyline wächst ständig um weitere (Luxus-)Wohntürme. Dass es nach wie vor genug Menschen gibt, die die explodierenden Mieten bezahlen können, löst in meinem beruflichen wie privaten Umfeld in Frankfurt schon lange ratloses Kopfschütteln aus.
Trotzdem mag ich Frankfurt. Ein bisschen so, wie man eine alte Freundin mag, die leider völlig in die falsche Richtung abdriftet, von der man aber weiß, dass sie diese anderen, liebenswerten Seiten hat.
Es ist das Nebeneinander von Städtischem und Dörflichem, das ich an Frankfurt immer mochte. Die Stadt gibt mächtig an mit ihrer Skyline und ihrer Mitgliedschaft im Club der fünf größten Städte des Landes. In Wahrheit ist Frankfurt klein. Man kann es problemlos in einer halben, höchstens einer Dreiviertelstunde komplett mit dem Fahrrad durchqueren. Nur ein paar Kilometer von den Straßenschluchten der Innenstadt entfernt ist Frankfurt grün, hat Wälder, Seen, Pferdekoppeln und Kopfsteinpflaster. Ähnlich wie im Norden Berlins haben auch in Frankfurt viele Stadtteile ihren dörflichen Charakter nicht verloren. Aber anders als Berlin dehnt sich Frankfurt nicht annähernd so weit in der Fläche aus. Alles ist nah beieinander.
Eigentlich sind wir also nur von einem großen Dorf in ein kleines Dorf gezogen.
Und doch lebt es sich hier so ganz anders. Von vielem gibt es weniger. In vielen Fällen ist das mehr.
Menschen
In Frankfurt waren wir zwei von 750.000, hier zwei von 3600. Einsam ist es hier nicht. Wo immer sich zwei Wege kreuzen, sehen wir oft Menschen zusammenstehen und klönen. Auf unseren Erkundungswegen rund um das Dorf begegnen wir immer mal den neuen Nachbarinnen und Nachbarn, unterwegs mit ihren Hunden oder Pferden. Stets wird freundlich gegrüßt. Es ist Leben im und um das Dorf, aber gerade im rechten Maß. In Frankfurt ist man quasi nie allein. Hier ist genug Platz, um allein zu sein. Für einen Menschen wie mich, die ab und an einfach für sich sein muss, ist das ein Geschenk.
Was mir (demnach) nicht fehlen wird: Der unaufhörliche Strom an Menschen, der sich täglich durch die Innenstadt wälzt, in U-Bahnen und Trams drängelt, lange Schlangen an den Kassen bildet und auch unter der Woche abends die Lokale füllt, so dass es schwer ist, spontan mit mehr als zwei Personen irgendwo einen Tisch zu ergattern.
Was mir fehlen wird: Die räumliche Nähe zu den Frankfurter und Offenbacher Freund*innen. Es war schön, zu wissen, die anderen sind gleich um die Ecke oder zumindest in kurzer Zeit erreichbar. Auf der anderen Seite sind unsere Taunus-Freund*innen und Familien nun sehr viel näher. Ein Auge lacht, während das andere weint.
Nüchtern betrachtet ändert sich nicht viel: Wie vorher auch treffen wir uns weiterhin abends nach der Arbeit in der Stadt. Und werden uns daran gewöhnen, dass unsere Gespräche ab und an vom Blick zur Uhr unterbrochen werden – damit wir die letzte Bahn nicht verpassen.
Mobilität
Ohne den Bahnanschluss wären wir nicht in dieses Dorf gezogen. Fünf Minuten zu Fuß von der Wohnung zum Bahnhof, dann 40 Minuten Fahrt in der Regionalbahn (Limburg – Frankfurt), und wir sind am Frankfurter Hauptbahnhof. Davon können manche meiner Kolleginnen und Kollegen, die morgens erst einmal mit dem Auto zu einem Bahnhof kommen müssen, nur träumen.
Was mir nicht fehlen wird: Hektik und Betriebsamkeit auf dem Arbeitsweg. 40 Minuten Rückzug in die relativ geschützte Sitzreihe einer Regionalbahn sind auch 40 Minuten, in denen ich mich wirklich vertiefen kann – in ein Buch, die Zeitung, einen Podcast. Oder beim Musikhören aus dem Fenster die Taunuslandschaft betrachten darf. Das entspannt mich mehr als die Tram- oder U-Bahnfahrten zuvor. Der Heimweg eignet sich sehr, um den Job tatsächlich hinter mir zu lassen. Der Kindle gehört, vollgepackt mit Lesestoff, nun zum täglichen Proviant für die Fahrt zur und von der Arbeit, das Smartphone mit frischen Podcasts sowieso.
Was mir fehlen wird: Spontaneität. Die Bahn fährt, abgesehen von verstärkten Verbindungen am frühen Morgen, nur einmal pro Stunde. Die Wege von A nach B müssen also jetzt genauer geplant werden. Gegen Feierabend steigt der Stresslevel: Schaffe ich es pünktlich raus, um meinen Zug zu bekommen? Als ich in der Stadt wohnte, dachte ich kaum darüber nach, wenn der Arbeitstag mal ein wenig länger dauerte. Jetzt hat schon eine Viertelstunde spürbare Auswirkungen, denn es verzögert das Nachhausekommen gleich um eine volle Stunde.
Was mir noch fehlen wird: Nahezu jeden Weg ohne Auto erledigen zu können: Zu Fuß, per Rad, mit Öffis. Irgendwas fährt in der Stadt immer. Ich habe an jeder Ecke ein Leihfahrrad, einen Elektro-Roller vorgefunden. Musste es doch ein Auto sein und unseres war unterwegs, wartete in der Nähe der nächste City Flitzer. Leihräder und E-Scooter sucht man hier auf dem Land vergeblich. Immerhin, es gibt Carsharing: Ganze zwei (!) Fahrzeuge, die drüben in der drei Kilometer entfernten Kernstadt parken.
Infrastruktur
Unser Dorf hat unter anderem einen Rewe, eine Apotheke, eine Bank, zwei Bäcker (als wir vor zehn Wochen hierher zogen, waren es noch drei; ich hoffe, das Bäckereisterben geht nicht in diesem Tempo weiter), eine Post, die täglich drei (!) Stunden geöffnet hat. Eine Friseurin, eine Fahrradwerkstatt, eine Änderungsschneiderei, ein Geschäft für Jagd- und Sportwaffen, einen Landmaschinenhandel. Im Umkreis von fünf Kilometern finden sich unter anderem ein Schwimmbad, ein Kino, ein Krankenhaus.
Also alles da, was man so braucht, und auch einiges, das man nicht so dringend braucht.
Beim Thema Restaurants geht der Punkt eindeutig an Frankfurt. Zumindest, was die Quantität angeht. Dort gingen wir vor die Tür und hatten die Qual der Wahl: Zum Vadder, auf einen Äppler in den Biergarten der Sonne, in den Irish Pub, die Weiße Lilie, das Schönebergers? Zum Apfelwein Solzer, ins Toffis oder ins Eckhaus? Oder auf eine Pizza gleich gegenüber?
Hier im Dorf muss man wenigstens nicht so lange überlegen. Fußläufig kommen nur zwei, drei Lokale in Frage. Gespannt warten wir auf die Öffnung der „Hexenküche“ ein paar Straßen weiter, ein veganes Restaurant, das auch Fleischesser in unserem hiesigen Bekanntenkreis überzeugend finden, das aber gerade Winterpause macht. Drüben in der Kernstadt ist die Auswahl größer. Vor allem der dortige Japaner hat es uns angetan.
Seit unsere langjährige Stammkneipe im Frankfurter Nordend, das Schopenhauers, Knall auf Fall dichtgemacht hat, waren wir in Frankfurt in dieser Hinsicht heimatlos. Das hat jetzt ein Ende, denn: Mitten in unserem Dorf steht der Nassauer Hof! Eine Kneipe, in der ich einen nennenswerten Teil meiner späten Teen- und frühen Twen-Jahre verbracht habe.
Unlängst feierte der Nassauer Hof ein großes Fest, weil er seit 100 Jahren (mit Unterbrechungen) in Familienbesitz ist, ebenso wie die zugehörige „Scheuer“, urige Kulisse für Konzerte, Comedy, Bauerndiscos und Veranstaltungen mit vielversprechenden Titel wie “Danse gehn” und “Singe gehn”. Anders als damals habe ich nun nur drei Minuten Fußweg in diese neue alte Stammkneipe. Und was soll ich euch sagen: In den letzten Wochen habe ich so viel getanzt wie die letzten fünf Jahre in Frankfurt nicht mehr. :)
Was mir fehlen wird: Doch so einiges. Der jüdische Bäcker in unserem Frankfurter Viertel, bei dem wir uns samstags gerne Brötchen holten. Die arabischen Lebensmittelmärkte im Bahnhofsviertel. Die Asia-Läden in der Fahrgasse. Überhaupt: Die Vielfalt, die nach einem Jahrzehnt als Frankfurterin so alltäglich für mich war, dass ich sie kaum noch bewusst wahrnahm. Erst jetzt merke ich den Kontrast wieder, auch wenn das Dorf glücklicherweise nicht nur weiß ist.
Wir wussten, was wir aufgeben. Aber wir wissen auch, was wir gewinnen. Den Sternenhimmel. Die Ruhe. Die deutlich bessere Luft (die meist einige Grad kälter ist als in Frankfurt). Die Freiwillige Feuerwehr, die den Weihnachtsbaum abgeholt hat. Die Familien, die immer akzeptierten, dass wir Stadtkinder geworden waren, und sich nun von Herzen freuen, uns wieder in ihrer Nähe zu haben.
Es war keine Stadtflucht, sondern eine Landsehnsucht, die uns hierher zurückgezogen hat.
Die Anhöhe mit der alten Heer- und Geleitstraße vor unseren Fenstern ist im Abendlicht am schönsten. Die Dämmerung lässt das Grün langsam verblassen, auf den gewundenen Feldwegen schlendern Gassigeher Richtung in Dorf zurück. War es die richtige Entscheidung, aufs Land zu ziehen? Bis jetzt fällt die Antwort eindeutig aus. Aber fragt uns in einem Jahr nochmal.