Hurtigruten-Tour, Tag 6: Honningsvåg – Nordkapp – Kjøllefjord – Mehamn

Fünfzig Schattierungen von Grau? Inzwischen kenne ich sie alle. Nach nahezu jedem Landgang auf unserer Hurtigruten-Schiffsreise muss ich mich aus einer pitschnassen Jacke schälen und bin heilfroh, mir kurz vor der Abreise noch eine wasserfeste Hose mit Fleece-Futter angeschafft zu haben. Statt der Sonne lachen weiterhin schwere graue Wolken am Himmel – und zwar Tränen.

Wolkenverhangene Inseln in der Nähe des 71. Breitengrads.

Ein wenig frustrierend ist das schon, wenn man sich jahrelang auf eine Traumreise freut und dabei stets die Bilder von glitzerndem Schnee und sonnenbeschienenen Fjorden unter blitzblauem Himmel vor Augen hat.

Doch eine Messenger-Nachricht von zuhause stoppt den Anflug von Übelgelauntheit, den das Wetter in mir aufkommen lässt: “Du kannst es genießen oder nicht genießen. Genießen ist auf alle Fälle die bessere Wahl” – gefolgt von einem weiteren guten Ratschlag.

Manchen Ratschlägen muss man einfach folgen. 

Stimmungsaufhellende Mittel: Aquavit

Wer auf einer Reise Land und Leute kennenlernen möchte, muss sich natürlich auch mit Ernährungsgewohnheiten beschäftigen – ist ja klar. Der Aquavit, das “Wasser des Lebens”, ist Nationalgetränk in den skandinavischen Ländern. Und wenn die mit Kümmel versetzte Spirituose monatelang über die Weltmeere schippert, macht sie das nur noch wertvoller! So entstand, der Legende nach, die Sorte Linie Aquavit.

Bei einer Lieferung nach Übersee sollen Anfang des 19. Jahrhunderts ein paar Fässer übrig geblieben und nach Norwegen zurückgekehrt sein. Als man sie nach der langen Seereise öffnete und den Inhalt verkostete, stellte man fest: Schmeckt besser als vorher! Die Norweger führten das auf die Schaukelei auf See und die Temperaturschwankungen zurück, und seither wird unter dem Namen Linie Aquavit jene Sorte verkauft, die in Sherryfässern auf Schiffen die weite Reise über den Äquator (Linie) und zurück gemacht hat.

Versuchen kann man’s ja mal. Wir schauen bei unserem aus der Türkei stammenden Barkeeper in der Explorer Lounge vorbei, bestellen zwei Aquavit, einen “Linie” und zum Vergleich einen, der nicht zur See gefahren ist, schütten das kümmelige Zeug runter – und schütteln uns. Brrrrr!

Auch keine Dauerlösung.

Aber hey! Wir sind in Norwegen! Wo ließen sich Wetter-Widrigkeiten leichter ertragen als hier, in einer der spektakulärsten Landschaften der Welt! Und überhaupt: Komfortabel im Sonnenschein in den höchsten Norden Europas reisen kann ja jeder. Nebel, Schneeregen und die erfrischende Polarmeer-Brise, die jeden Aufenthalt an Deck zur Herausforderung macht, lassen unsere Expediton in arktische Gewässer doch gleich viel authentischer wirken! :)

Außerdem: Nach dem tollen Husky-Hundeschlitten-Erlebnis gestern steuern wir heute mit bis zu 15 Knoten Geschwindigkeit gleich auf den nächsten Höhepunkt unserer Reise zu.

An die 2000 Kilometer haben wir inzwischen zurückgelegt, seit wir in Bergen an Bord gingen. Unser Schiff, die MS Spitsbergen, nähert sich dem äußersten Norden Norwegens. Nachts haben wir kurz im 500-Einwohner-Dorf Øksfjord am gleichnamigen Fjord Station gemacht, und am frühen Morgen lagen wir eine Dreiviertelstunde am Hafen von Hammerfest, dessen Erkundung wir uns für den Rückweg aufheben. Jetzt, kurz vor 9 Uhr, erreichen wir Havøysund. Damit befinden wir uns auf dem 71. Grad nördlicher Breite – auf einer Höhe mit Barrow in Alaska, das Hammerfest den Status als nördlichste Stadt der Welt streitig macht. Im Atlantik irgendwo auf unserer Backbordseite liegt Grönland.

Die 1000-Seelen-Ortschaft Havøysund in Nordnorwegen.

Havøysund liegt in der Finnmark, der nördlichsten Provinz Norwegens. Sie hat rund 75.000 Einwohnerinnen und Einwohner – die allerdings verteilen sich über eine Fläche von der Größe der Schweiz! Im Durchschnitt leben in der Finnmark demnach gerade mal 1,5 Personen auf einem Quadratkilometer (Schweiz: 200, Deutschland: 230).

Über die karge Insel aufs Nordkap

Um 11:15 Uhr laufen wir in Honningsvåg ein. Die Hauptstadt der Gemeinde Nordkapp liegt im Süden der arktischen Insel Magerøya, was im Norwegischen “karge Insel” bedeutet. Und das trifft es. Auch wenn im Sommer die Temperatur im Schnitt auf 14 Grad klettert, lässt der felsige Grund so gut wie nichts gedeihen. Im Winter kann das Quecksilber auf -30 bis -40 Grad fallen, und für lange zweieinhalb Monate herrscht Polarnacht. Ein Stromausfall wäre fatal, nicht nur wegen der langen Dunkelheit: Wie überall in Norwegen wird auch hier mit Strom geheizt. Deshalb hat man den Anschluss ans Netz doppelt abgesichert und zu den Überlandleitungen, die den Winterstürmen nicht immer trotzen können, eine zweite unterseeische Stromtrasse gelegt.

Unterwegs auf Magerøya.

Und es gibt da unten noch mehr Verbindungen. Gleich mehrere unterseeische Straßentunnel verbinden die Insel mit dem Festland. Rund 250.000 Touristen kommen jedes Jahr; zur Zeit der Mitternachtssonne, so hören wir, sei kaum noch ein Bett frei. Das Bild von der abgeschiedenen Insel täuscht also, zumindest im Sommer kann davon keine Rede sein. Der Tourismus ist neben dem Fischfang zur wichtigsten Einnahmequelle geworden. Magerøya mag am Ende der Welt liegen, doch die Insel hat neben Hotels auch Kino, Theater, Konzerthalle, Polizeistation, einen Flugplatz mit fünf Verbindungen täglich via Hammerfest nach Tromsø – und in jedem Dorf, auch im kleinsten mit neun Bewohnern, eine Grundschule.

Etwa 40 Minuten dauert unsere Busfahrt vom Hafen zum rund 30 Kilometer entfernten Nordkap (norwegisch: Nordkapp). Hinter einer völlig unspektakulären Tankstelle in Honningsvåg überqueren wir erneut den legendären 71. Breitengrad Nord. Von dort windet sich die Straße hinaus aus dem Ort, vorbei an Buchten und Seen, stetig bergauf. Schneeverwehungen auf der Fahrbahn zeigen uns an, dass wir in höhere Regionen kommen.

Der Busfahrer scheint von den Straßenverhältnissen gänzlich unbeeindruckt. Mit den im Winter obligatorischen Spikes-Reifen werden hier weitaus schwierigere Passagen gemeistert. Nach Winterstürmen müssen Straßen in Nordnorwegen oft gesperrt werden. Befahren kann man sie oft trotzdem, allerdings nur zu festgelegten Zeiten und dann im Konvoi hinter einer Schneefräse. Wer nicht mit seinem Auto zur rechten Zeit am Schlagbaum ist, hat Pech gehabt und muss auf die nächste Öffnung warten. Auch die Strecke, auf der wir gerade unterwegs sind, wird bei starkem Schneefall in einem solchen Konvoi befahren: Vorne der Schneepflug, hinterdrein die Busse voller Touristen.

Das Nordkap gilt als der nördlichste Punkt Europas. Stimmt zwar nicht, ist aber nur knapp daneben. Denn die Landzunge mit dem für unsereins schwer auszusprechendem Namen Knivskjellodden etwas weiter westlich ragt noch weiter nach Norden. So kann man den tatsächlich nördlichsten Punkt Europas vom Nordkap aus mit bloßem Auge wenigstens sehen.

Die Landzunge Knivskjellodden ragt 1400 Meter weiter nach Norden als das benachbarte Nordkap.

Was soll’s, die schmale Felsnadel würde sich eh nicht eignen, um dem Ansturm der Touristen gerecht zu werden. Die benachbarte Plattform rund 300 Meter über dem Meeresspiegel dagegen ist gut erschlossen für Besucher, ganz gleich, ob sie sich motorisiert, mit dem Fahrrad oder zu Fuß nähern, und sie hat eine touristenfreundliche Infrastruktur mit Restaurant, Souvenirshop und Toiletten. Tief unter der Nordkaphalle, in der sich all diese Einrichtungen finden, wurde in einem Tunnel zudem ein Kino, ein kleines Museum und sogar eine Kapelle gebaut.

Die Hauptattraktion aber steht draußen, am (natürlich) nördlichen Ende des Plateaus. Der Globus bildet die Kulisse für Hunderttausende von Selfies. Hier eins davon:

Fingerzeig: Nordlandfahrerinnen mit Nordkap im Hintergrund.

Wo heute der Globus steht, stand früher eine Statue von König Harald. Dummerweise konnte man die von den Kreuzfahrtschiffen aus nicht so gut erkennen. So sorgten die Reedereien dafür, dass Harald durch eine weithin sichtbare Landmarke ersetzt wurde, einen metallenen Globus, wie man ihn vom Nördlichen Polarkreis kennt.

Der Brite Richard Chancellor konnte sich weder an Königsstatue noch an Globus orientieren, als er 1553  auf der Suche nach der Nordostpassage Richtung China mit dem Schiff „Edward Bonaventure” hier vorbeischipperte. Er hielt den markanten Inselfelsen für norwegisches Festland – und taufte ihn “Nordkap”.

Nur noch 2100 Kilometer trennen uns nun vom Nordpol.

Das Nordkap-Plateau liegt 307 Meter über dem Meer – und selten ist es dort so nahezu menschenleer wie an diesem Tag.

Das Mitternachtssonnen-Denkmal wurde 1984 aufgestellt. Die Kompassnadel zeigt – natürlich – nach Norden.

Die Reliefs, jedes nach der Vorlage eines Kindes aus einem der sieben Kontinente gestaltet, bilden das “Denkmal der Kinder der Welt”.

Ein achtes Relief erzählt die Geschichte des Denkmals.

In der Nordkaphalle finden sich ein Restaurant, eine Ausstellung, ein Kino, eine Kapelle und – natürlich – ein Souvenirshop.

Unseren persönlichen Nordkap-Moment hält ein netter Mitreisender im Foto fest, das ihr weiter unten seht. Wochen später und längst wieder zuhause, entdecke ich ein weiteres Dokument unseres Besuchs am nördlichen Rande des Kontinents. Die Nordkap-Panorama-Webcam zeigt nämlich nicht nur Echtzeitbilder, sondern auch Archivaufnahmen. Und siehe da:

Unser Nordkap-Moment, festgehalten von der Panorama-Webcam auf dem Dach der Nordkaphalle.

Doch, doch, das sind wir wirklich:

Herangezoomt: Wir sind’s wirklich.

Und dies sind die Fotos, die just in jenem Moment entstehen:

Es gibt kein schlechtes Wetter – es gibt nur schlechte Kleidung!

Happy am Nordkap.

Wir fühlen uns ein bisschen wie Francesco Negri, der erste Tourist, der das Nordkap besuchte. Der Italiener war von Ravenna bis in die nördlichste Region Europas zwei Jahre unterwegs, bis er 1664 endlich das Sehnsuchtsziel erreichte und notieren konnte:

Hier stehe ich am Nordkap, an Finnmarks äußerster Spitze – wirklich am Ende der Welt.

Auf seinen Spuren wanderten in den folgenden Jahrhunderten viele zum Felsplateau hinauf, darunter der spätere “Bürgerkönig” Frankreichs, Louis Philipp I., der König von Schweden und Norwegen, Oskar II., und König Chulalongkorn von Siam.

All diese Herrschaften mussten sich das Erlebnis hart erarbeiten und von der Bucht Hornvika bis aufs Plateau klettern – auf eben jenem Wanderweg, der vor einigen Jahren wiedereröffnet wurde und den auch meine Kollegin Miriam Keilbach abgelaufen ist – in ihrem Blog beschreibt sie ihn. Wem auch diese Herausforderung nicht genügt, kann es ja wie Nicole und Danni machen. Die beiden Schweizerinnen sind im vergangenen Jahr 4000 Kilometer von Basel zum Nordkap marschiert. Auf basel-nordcap.com berichten sie über dieses Abenteuer.

Nun, auch ich verfolgte eine spezielle Mission, als ich mich zum Nordkap begeben habe. Und ich habe sie erfüllt. Hier das Beweisfoto.

Found it: Der nördlichste Geocache Europas.

Im Kino der Nordkaphalle wird übrigens ein durchaus sehenswerter Panoramafilm (Trailer) über das Nordkap und die Insel gezeigt. Auf Magerøya kann man nicht nur alljährlich die Mitternachtssonne am Kap erleben, sondern im Herbst auch einen Almabtrieb der besondern Art: Samische Familien, die ihre Tiere auf den Sommerweiden auf der Insel aufgepäppelt haben, treiben sie zum Festland zurück – und zwar übers Wasser. Die Rentiere sind dann stark genug, den knapp zwei Kilometer breiten Sund schwimmend zu durchqueren. Im Frühjahr werden die vom Winter abgemagerten Rentiere dann wieder mit Booten nach Magerøya transportiert.

Wir selbst sind nach einer Woche Hurtigruten-Verköstigung zwar alles andere als abgemagert. Trotzdem verlassen wir Magerøya nicht schwimmend, sondern in unserer warmen, kuschligen Kabine an Bord der MS Spitsbergen. Am nächsten Hafen wartet schon ein weiterer Ausflug auf uns.

Samischer Herbst

Am Abend sind wir bei einer samischen Familie zu Gast. Es ist ein Landgang zwischen zwei Häfen: In Kjøllefjord gehen wir gegen 17 Uhr von Bord, und während das Schiff seinen Weg nach Mehamn fortsetzt, wo es uns später wieder aufnimmt, nehmen wir in einem kleinen Holzhaus auf Rentierfellen Platz. Auf dem Weg hierher hat unser lokaler Guide (erneut ein deutscher Auswanderer) uns schnell noch beigebracht, was “Guten Tag” auf Nordsamisch heißt, und so begrüßen wir unseren Gastgeber beim Eintreten hochkonzentriert mit den Worten “buorre beaivi”. Ailo, ein Mittfünfziger in traditioneller samischer Tracht, heißt uns willkommen. In den nächsten anderthalb Stunden bringt er uns seine Kultur näher.

Die Sami sind ein indigenes Volk von gut 100.000 Menschen, die vor allem im Norden der Länder Norwegen, Schweden, Finnland und Russland leben. Sapmi nennen sie ihr grenzüberschreitendes Siedlungsgebiet (und nicht etwa Lappland, wie Ailo betont). In Norwegen stellt die Minderheit heute etwa fünf Prozent der Bevölkerung, nur wenige davon leben von der Rentierzucht. Vieles hat sich am Nomadenleben geändert, die Moderne hat auch bei den Sami Einzug gehalten, aber eines ist geblieben: Die Rentierzüchter folgen den Tieren, wenn diese von den Sommerweiden in den Bergen oder an den Küsten zu den Winterquartieren im Flach- und Binnenland ziehen. Die Rene scheren sich dabei nicht um Ländergrenzen. Und sie sind es auch, die entscheiden, wann es Zeit ist für die Wanderung ist.

Sapmi, das Siedlungsgebiet der Sami. Grafik: Rogper, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons

Zum traditionellen nomadischen Leben passt, dass die ursprüngliche Sami-Kultur so etwas wie “Landbesitz” nicht kennt. Nach ihrer Überzeugung muss nur eine einzige Instanz um Erlaubnis gefragt werden, bevor sich der Mensch niederlässt: die Natur. Umso schutzloser waren die Sami in der Vergangenheit der Bevölkerungspolitik in den Ländern ausgesetzt, über die sich ihr Lebensraum erstreckt. Immer wieder wurden sie aus angestammten Sommer- oder Winterweidegebieten vertrieben. Eigentlich geht das seit Wikingerzeiten so, und die Verdrängung hat bis in unser Jahrhundert nicht aufgehört.

Dabei können die Sami sich bis heute auf einen mehr als 250 Jahre alten Vertrag berufen, den “Lapp Codicil”, der ihnen seit 1751 das Recht zugesteht, mit ihren Rentierherden frei herumzuziehen. Landnahme, Abholzungen, Industrialisierungen rücken ihnen dennoch immer mehr zu Leibe, und auch die Risiken einer Technologie, die wir im wohlhabenden Deutschland inzwischen als Auslaufmodell erkannt haben, müssen sie ausbaden: Die Katastrophe von Tschernobyl hat Weidegründe der Sami über Jahrzehnte hinweg verseucht und den Handel mit Rentierfleisch einbrechen lassen. In Norwegen springt der Staat ein. Hier wie auch in Schweden und Finnland gibt es seit Ende der 1980er Jahre zudem ein Sami-Parlament, genannt Sameting, das sich auf politischer Ebene um die Interessenvertretung der Minderheit kümmert. Das scheint auch dringend nötig.

Das Gefühl des Verlusts der Heimat hat der 1943 geborene samische Musiker und Autor Nils-Aslak Valkeapää so in Worte gefasst:

So spalten Teerstraßen unsere Gegenden, unsere Rentierweiden. Diese bringen Menschen irgendwo aus der Welt, sie kriechen aus dem Auto und wünschen Bilder von uns zu machen, von uns Eingeborenen. (…) Man hat uns fast alles genommen, was irgendwie Wert gehabt hat. Man hat uns in Gebiete verdrängt, wo andere nicht zurechtkommen und das Leben dort als Strafe empfinden. Und jetzt erweisen sich diese Gebiete als begehrenswert und nützlich. (…) Die Touristen sind gegangen. Ich habe jetzt Zeit, durch diese Steinwüste zu wandern, denn der Fisch ist verschwunden, und der Gänseschwarm am Tarjunsee nur noch Kindheitserinnerung. Irgendwo in meinem Innern wirbelt Schneegestöber. Eiseskälte, die Tür meines Kühlschranks ist offen, der Inhalt zerstreut in alle Windrichtungen. Ich sehe in meiner Badewanne leere Plastikbeutel schwimmen, mein Bett ist geschändet mit zerbrochenen Flaschen, leeren Bierbüchsen. Und mein Esstisch ist zerstört, asphaltiert, Benzintankstelle und Whiskylachen.

In dem Holzhaus zwischen Kjøllefjord und Mehamn kommt das nur am Rande zur Sprache. Ailo betont eher die Fortschritte als die Probleme. Die Zeiten, in denen Kindern in den Schulen verboten war, samisch zu sprechen, seien vorbei, und Norwegen würde die samische Kultur seit den 1990er Jahren verstärkt fördern. Wir Touristen sollen wohl nicht zu sehr mit den Schattenseiten belästigt werden.

Ein interessanter Abend wird es trotzdem. Wir bekommen Einblicke in die traditionelle Kultur der Sami, ihre nomadische Lebensweise, ihren Umgang mit Pflanzen und Tieren – und ihre Musik, den Joik. 

Bei dem traditionellen gutturalen Gesang, der ein wenig an Jodeln oder indianischen Gesang erinnert, geht es mehr um die Melodie als um Worte. Hört euch Ailo und sein Joiken einfach mal an:

Wir erfahren Wissenswertes über das frühere Alltagsleben, über Rentierzucht und die Herstellung von traditioneller Bekleidung aus dem Fell der Tiere, über Werkzeuge und Essgewohnheiten, über Familientraditionen und Trachten, über Schamanentum und Naturverständnis.

Wir bekommen Kostproben davon, wie sich die Sami die Heilkräfte der Natur zunutze machen: Ailos Tochter serviert uns einen magenberuhigenden Tee aus Arznei-Engelwurz aus einer hölzernen Tasse, während Ailo uns an einem Exemplar demonstriert, welche Bestandteile der Pflanze verwertet werden. Später bekommen wir Aspirin in natürlicher Form: Ein Stückchen Weidenrinde, auf dem wir herumkauen – so wie die Sami es früher taten, wenn sie Kopfschmerzen hatten.

Die junge Frau reicht uns einen Teller mit getrocknetem Rentierfleisch, Stockfisch und Moltebeeren, einen Krähenbeerensaft und einen Schnaps aus Rosenwurz. Auch ein paar Brocken Samisch versucht Ailo uns beizubringen, genauer gesagt: Nord-Samisch. Die Dialekte dieser Sprache, so erzählt er, unterscheiden sich so stark, dass er selbst Schwierigkeiten habe, die Sami aus dem Süden zu verstehen.

Zum Abschluss hören wir Ailo noch einmal joiken, dann entlässt er uns in eine mondhelle Nacht. “Die Chancen stehen gut für das Nordlicht”, sagt er zum Abschied mit einem Blick zum Himmel.

Wird er Recht behalten? Immerhin hat er uns erzählt, er sei der Neffe eines Schamanen …

Mit Hurtigruten in Norwegen unterwegs

3 Kommentare

  1. Hach! Hach! Hach! :-)))

    Ich hatte gehofft, dass heute vielleicht ein weiterer Teil des Reiseberichts kommen würde und da ist er!! Vielen Dank!

    Gleich zu Beginn musste ich lachen über die “50 Schattierungen von Grau”, die Du nun kennst. ;-)
    Ansonsten dachte ich noch: Hurtigruten im Sommer bei Sonnenschein, etc. ist was für Weicheier (und alles ist wesentlich überfüllter)! ;-)
    Wenn Du dann doch zu sehr Deinen Traumbildern nachtrauerst, kannst Du die Tour ja nochmal in einer anderen Jahreszeit wiederholen (und hoffen, dass Du nicht eine Regenperiode erwischst). ;-)

    Tolle Fotos vom Nordkapp. Das Denkmal der Kinder der Welt finde ich irgendwie ziemlich berührend und toll, gerade auch an diesem Ort.

    Tja, die Sami, das ist ein spannendes Völkchen. Ich bewundere, wie sie den Spagat zwischen Tradition und Moderne (inzwischen meist recht gut) hinbekommen. Ich folge auf Twitter einer schwedischen Sami, die als Software-Entwicklerin in Stockholm arbeitet. Sie tweetete vor einiger Zeit ein Foto, dass diesen Spagat gut darstellt: https://twitter.com/sweden/status/945254155399991296

    Nun wünsche ich Dir und Isabell noch einen guten Jahreswechsel und ein gesundes, erfolgreiches und positives Jahr 2018!

    Liisa

  2. P.S. Bei der Rechenaufgabe, mit der man beweisen muss, dass man ein Mensch und ein Spambot ist, frag ich mich jedesmal, was eigentlich passiert, wenn ich mich mal verrechne und das falsche Resultat eintrage. Geht der Kommentar dann anstandslos durch (weil ein Roboter sich nicht verrechnen würde – es sei denn er ist taktisch programmiert) oder wird der Kommentar dann zurückgewiesen, weil das Resultat nicht stimmt (obwohl damit erwiesen ist, dass ich wohl ein rechenunfähiger Mensch bin)?

    Eines Tages werde ich das wohl mal austesten, sonst denke ich da bis ans Ende meiner Tage drüber nach … oder Du kennst die Antwort auf diese Frage und beantwortest sie mir. ;-)

  3. Na, versprochen ist versprochen! Danke für deinen Kommentar und den Hinweis auf @sweden – spannend.

    Die Fotos vom Nordkapp geben die Stimmung ganz gut wieder: Schon mittags setzte die Dämmerung ein, schwere Wolken am Himmel – und nur wenige Menschen da draußen. Die meisten, die mit uns im Bus kamen, haben sich schnell in die Nordkapphalle verzogen (wir dann später allerdings auch).

    Es war auf jeden Fall einer der ganz besonderen Momente im zuende gehenden Jahr, und ich geh äußerst dankbar ins Neue. Kommt ihr auch gut rüber nach 2018 – das neue Jahr möge schöne Augenblicke für euch bereithalten!

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