Hurtigruten-Tour, Tag 4: Polarkreis – Bodø – Lofoten

Heute müssen wir zeitig aus den Federn, denn: Am frühen Morgen erreichen wir den nördlichen Polarkreis. Niemand an Bord will den Moment verpassen, wenn das Schiff sich dem 66. Breitengrad nähert und die Grenze zur Arktis überquert.

Die Polarkreise bilden einen Ring um die Regionen im äußersten Norden und Süden der Erde, in denen im Sommer Mitternachtssonne und im Winter Polarnacht herrschen. Am Polarkreis selbst geht die Sonne gerade nicht mehr unter bzw. auf, Polartag (21. Juni) und Polarnacht (21. Dezember) dauern hier einen Tag. Je weiter man sich Richtung Zentrum bewegt, umso länger halten Polartag und Polarnacht an. In Kirkenes im Nordosten, dem Ziel unserer Schiffsreise, geht die Sonne im Winter mehr als zwei Monate lang nicht auf.

So verläuft der Polarkreis in Skandinavien.

Schon von Beginn unserer Reise an sind die Tage spürbar kürzer als in unseren Breiten. In Bergen war Sonnenuntergang gegen 15:30 Uhr, und hier, nahe des Polarkreises, verabschiedet sie sich bereits fast eine Stunde früher. Ganz im Norden werden wir die Sonne schon gegen 13:30 Uhr untergehen sehen.

Wie lebt es sich mit so viel Dunkelheit? Die Frage stellen wir mehreren Leuten, denen wir auf unseren Landausflügen begegnen, und die Antworten ähneln sich: Man gewöhnt sich daran, und außerdem: Richtig finster werde es ja nicht. Die weiße Winterlandschaft reflektiert den Mond, so dass fast immer ein Rest Licht bleibe. Ein Deutscher, der nach Kirkenes ausgewandert ist, wird uns berichten, dass ihn weder die Dunkelheit noch Temperaturen um die -30 Grad von nächtlichen Angeltouren abhalten.

So bitter kalt ist es Anfang November bei weitem noch nicht. Das Thermometer schwankt zwischen wenigen Plus- und wenigen Minusgraden, der Niederschlag zwischen Regen, Hagel- und Schneeschauern. Auf einem Schiff allerdings fühlt sich auch diese noch moderate Außentemperatur ziemlich frisch an, und wir sind froh, uns vor der Reise mit warmer Unterwäsche ausgestattet zu haben. So stehen wir an diesem Morgen also bestens präpariert auf Deck 8 und halten im blauen Licht der Dämmerung Ausschau nach der Markierung, die den Breitengrad 66° 33′ N anzeigt.

Der Globus auf der Insel Vikingen markiert den nördlichen Polarkreis – jedenfalls so ungefähr …

Im Logbuch wird als Zeitpunkt der Überquerung des Polarkreises 7:35:21 Uhr stehen. In diesem Moment schippern wir an der winzigen Insel Vikingen vorbei: Ein Metallglobus, auf den nackten Fels montiert, symbolisiert den nördlichen Polarkreis. Tatsächlich liegt er inzwischen gut 1500 Meter weiter nördlich. Der Polarkreis wandert: Jedes Jahr nähert er sich etwa 14,5 Meter dem Nordpol. Anfang Dezember 2017 liegt er auf dem nördlichen Breitengrad 66° 33′ 46,9”.

Ab nun fahren wir in arktischen Gewässern.

Für Nordmeerfahrer-Debütanten steht nun die Polarkreis-Taufe auf dem Programm. Plötzlich ist der Meeresgott Njord an Bord, der verdächtige Ähnlichkeit mit der “Kultur- und Naturvermittlerin” Hege hat, und fuchtelt mit einem Dreizack in der kühlen Morgenluft herum, während der Kapitän und der Hotel-Direktor die Aufgabe übernommen haben, den Passagieren eine Kelle Eiswasser samt Eiswürfeln in den Nacken zu kippen.

Das Polarkreis-Taufwasser. Bild: Hege Børresen.

In unserer warmen Unterwäsche fühlten wir uns eigentlich gut auf die Zeremonie vorbereitet  – ein Irrtum. Wir ahnten ja nicht, mit welcher Gründlichkeit (und welch diabolischem Vergügen) die beiden Herren die Krägen ihrer zahlenden Gäste lupfen, damit die eiskalte Fracht auch wirklich auf der nackten Haut ankommt.

Und so kommt es, dass rund um den Polarkreis täglich am frühen Morgen spitze Schreie von Schiffspassagieren über das Nordmeer hallen … Wir machen da keine Ausnahme.

Auch wenn wir uns nun ganz offiziell im Polargebiet befinden: Vom ewigen Eis sind wir weit entfernt. Der Golfstrom aus Mexiko hält die Küste Norwegens bis in den hohen Norden das ganze Jahr über eisfrei. Diese Grafik zeigt, wie sehr die Küsten Europas und ganz besonders die norwegische davon profitieren.

Nördlich des Polarkreises.

Auf dem Weg nach Ørnes.

Nach einem nur halbstündigen Zwischenstopp in dem kleinen Hafenort Ørnes legen wir 100 Kilometer nördlich des Polarkreises fast pünktlich gegen 12:30 Uhr in Bodø an. Das Wetter hat sich weiter verschlechtert: Windböen und Regen empfangen uns, der  immer wieder in kurze Hagelschauer übergeht. Schon seit gestern steht einer unserer Ausflüge auf der Kippe: Die  Husky-Schlittenfahrt, die wir in drei Tagen in Kirkenes machen wollten und auf die wir uns sehr gefreut hatten, fällt wahrscheinlich flach, weil dort zu wenig Schnee liegt. Nun erfahren wir, dass auch der für heute geplante Bootsausflug im Saltstraumen bei Bodø witterungsbedingt storniert wird. Stattdessen wartet im Hafen ein Bus, der uns zu dem etwa 30 Kilometer entfernten Gezeitenstrom bringt. Zuvor drehen wir eine Runde durch die Stadt.

Kirche in Bodø: “Uns gefällt sie inzwischen”, sagt unser lokaler Guide.

Bodø ist jung. Die Hauptstadt des Bezirks Nordland wurde erst vor 200 Jahren gegründet. Heute leben hier rund 50.000 Menschen, es gibt eine schmucklose Kirche, ein Gefängnis, ein Krankenhaus und einen Bahnhof – den letzten auf dem Weg nach Norden. Bodø ist Endstation der Nordlandbahn. Wer weiter will, muss auf andere Verkehrsmittel ausweichen.

Der Bus bringt uns heraus aus der Stadt. Wir fahren auf einer Küstenstraße Richtung Osten. Die Seeadler haben hier eines ihrer wichtigsten Brutgebiete, und tatsächlich begleiten uns mehrere der majestätischen Vögel auf dem Weg zum Saltstraumen, dem größten Gezeitenstrom der Welt.

Ebbe und Flut drücken alle sechs Stunden gigantische Wassermengen durch ein 150 Meter schmales Nadelöhr hinein und wieder hinaus. Im Sund kehrt sich der Strom um, das Wasser fließt also in beide Richtungen zugleich, und dabei lässt es beeindruckende Strudel mit einem Durchmesser von bis zu 15 Metern entstehen, die mehrere Meter in die Tiefe reichen.

Als der Bus uns auf einem Parkplatz nahe der 40 Meter hohen Brücke über den Saltstraumen auslädt, begrüßt uns zunächst ein weiterer Hagelschauer. Trotzdem laufen wir den feuchten Kiesweg hinab zum Ufer des aufgewühlten Stroms. Die Möwen scheinen gänzlich unbeeindruckt und landen immer wieder nahe der Wirbel im Wasser. Wir hingegen sind nicht ganz unglücklich, dass wir das Naturphänomen nicht, wie geplant, auf wackligen Schnellbooten erleben, sondern aus sicherem Abstand und festem Boden unter den Füßen beobachten können.

Nach drei Stunden Aufenthalt in Bodø  werden die Leinen der MS Spitsbergen wieder losgemacht. Unser Schiff nimmt Kurs nach Westen, weg von der Küste, raus auf die offene See. Wir sind auf dem Weg zu den Lofoten.

In Bodø sind neue Passagiere an Bord gekommen, Norweger, die die Hurtigruten als Fährverbindung von einem Küstenort zum anderen nutzen. Die Kurzzeit-Fahrgäste nehmen keine Kabine, sondern richten sich für ein paar Stunden oder auch für eine Nacht in einer der vielen Sitzgruppen auf Deck 5 ein. Einige Mitreisende verschwinden in der Sauna oder in einem der Jacuzzis.

Es wird ein wenig ungemütlich, als  unser Schiff  den Vestfjord überquert, wo es dem Herbstwind und höheren Wellen ausgesetzt ist. Ein kleiner Vorgeschmack auf die längere Etappe durch die offene Barentssee in zwei Tagen? Der tiefe Drehsessel in Panorama-Saal, in dem ich es mir mit einem Buch gemütlich machen wollte, entwickelt jedenfalls ein schwunghaftes Eigenleben. Nur mit einiger Mühe komme ich aus der Tiefe des Raumes auf die Beine und schwanke dann doch lieber mal in die Kabine.

Gegen 21 Uhr läuft die MS Spitsbergen in Hafen der hübschen Lofoten-Hauptstadt Svolvær ein. In der Dunkelheit bleibt uns der Ausblick auf die “Lofotenwand” leider verwehrt. Vielleicht haben wir auf dem Rückweg mehr Glück. 

Auf den Inseln wird am Abend der Besuch eines “Wikingerfestes” angeboten, auf das wir allerdings gerne verzichten. Haakon, unser Reiseleiter, hat stattdessen eine gute Nachricht: In Tromsø, das wir am nächsten Tag erreichen, sei frischer Schnee gefallen. Sieht aus, als würden wir doch noch zu einer Husky-Schlittenfahrt kommen!

Es ist bereits kurz vor Mitternacht, als der Kapitän uns, quasi als Betthupferl, ein spektakuläres Manöver bietet: Er steuert die MS Spitsbergen in den winzigen Trollfjord hinein, einen zwei Kilometer langen Seitenarm des Raftsundes, an dessen Ufern Steilwände der fast 1000 Meter hohen Berge fast senkrecht aus dem Wasser ragen.

Die Einmündung ist nur 100 Meter breit, und die Crew auf der Brücke richtet die beiden starken Scheinwerfer immer wieder neu auf die Felsen aus, während sich das Schiff ganz langsam durch nahezu unbewegtes Wasser vortastet.

Wir stehen mit den anderen Mitreisenden, die das Manöver mitten in der Nacht an Deck gelockt hat, im Schneetreiben, können die vom Mond aufgehellten Felswände fast mit den behandschuhten Händen greifen und kaum glauben, dass unser Schiff aus diesem Fjord jemals wieder herauskommt – denn: Der Trollfjord ist eine Sackgasse. Die MS Spitsbergen muss hier wenden.

Der Trollfjord bei Tageslicht. :)

Wie in Zeitlupe dreht sich das Schiff an der breitesten Stelle um die eigene Achse und gleitet langsam wieder hinaus in den Raftsund. Wir bleiben noch ein wenig an Deck, spähen in den Himmel in der vagen Hoffnung, dass die dunkle Wolkendecke vielleicht doch mal aufreißt und wir wenigstens den Hauch einer Chance bekommen, Nordlichter zu sehen – leider vergeblich.

In der Dunkelheit setzt unser Schiff seinen Weg fort nach Stokmarknes und Sortland, die beiden  Häfen, die nachts angelaufen werden. Wir bekommen davon nichts mehr mit. Die frisch getauften Nordlandfahrerinnen sind erschöpft eingeschlafen …