An unserem ersten Morgen an Bord der MS Spitsbergen erwachen wir aus eher unruhigem Schlaf. Alles ist ungewohnt: Das leise, gleichmäßige Brummen des Schiffsmotors, nur unterbrochen von zwei kurzen nächtlichen Hafenstopps – einer in Norwegens westlichster Stadt Florø, das wir kurz nach 2 Uhr erreichen, und einer in Måløy morgens gegen halb fünf.
Die Bewegungen des Schiffes, anfangs eher ein schlafförderliches Wiegen, gehen am frühen Morgen in ein spürbares Schaukeln über, als wir eine ungeschützte Seestrecke durchqueren.
Meine Erfahrungen mit Schiffsreisen sind überschaubar. Als Kind hatte ich mir auf einer Fahrt von Dänemark nach Schweden mal die Seele aus dem Leib gekotzt. Derartig Skagerrak-gestählt, halte ich mich seither für immun gegen Seekrankheit. In Chile unternahm ich vor fast 20 Jahren meinen bislang längsten Bootstrip: Mehrere Tage lang die patagonische Küste südwärts Richtung Feuerland, vorbei an üppig bewaldeten Inseln (eine davon war mal Drehort für “Jurassic Park”) und an kleinen, von ins Meer kalbenden Gletschern abgebrochenen Eisbergen, die türkisblau schimmernd an unserem recht alterschwachen Schiff vorbeischwammen. Die Nächte verbrachten wir an Deck, weil wir ohnehin kein Bett hatten, nur einen Sitzplatz in einer Gemeinschaftskajüte mit ungefähr 50 anderen überwiegend schnarchenden Passagieren.
Ich erinnere mich an den alles überwölbenden nächtlichen Sternenhimmel über dem Pazifik, ein Anblick, von dem ich nicht genug bekommen konnte – nie zuvor hatte ich so viele Sterne gesehen. Dieser Anblick, so hoffe ich, wird mir über der Küste Norwegens erneut vergönnt sein. Und auch Landschaft, die mich nun hoch im Norden Europas erwartet, dürfte viel Ähnlichkeit mit den Bergen, Inseln und Fjorden in Südamerika haben …
Bilderbuch-Norwegen ohne Bilderbuch-Wetter
Fjordnorwegen: Hohe, schneebedeckte Gipfel und blaue, in der Sonne schimmernde Wasserarme, die tiefe Täler in diese spektakuläre Berglandschaft schneiden … Es sind diese Bilder, die Norwegen-Reisende im Kopf haben – wir natürlich auch. Nun, an der Farbe des Himmels müssen wir Abstriche machen: Beim ersten Blick aus dem Fenster präsentiert er sich nicht strahlend blau wie in der Hurtigruten- Werbung, sondern grau in grau.
Egal! Ab zum Frühstück und dann rauf auf Deck!
Warm und einigermaßen regenfest gekleidet, finden sich immer mehr Passagiere auf Deck 8 ein. Hier oben lässt sich am besten verfolgen, wie die MS Spitsbergen langsam in den Hjørundfjord hineingleitet, einen der längsten Fjorde Norwegens, östlich von Ålesund gelegen. Auf 35 Kilometern Länge schneidet der Fjord die Sunnmøre-Alpen in zwei Teile. Links und rechts erheben sich steile Felswände, der pyramidenförmige Slogen ist mit mehr als 1500 Metern einer der höchsten Gipfel des Gebirges. An den Ufern des zwei Kilometer breiten Fjords leben rund 1400 Menschen.
Hier ein Eindruck von dem “königlichen Fjord” bei besserem Wetter. Doch ich versichere euch: Die Kulisse ist auch ohne Sonnenschein atemberaubend schön.
Landgang in Urke
Den Abstecher in den Hjørundfjord machen die Schiffe nur auf der nordgehenden Route und auch nur im Winter. Es ist das Alternativprogramm zum vielbesuchten Geirangerfjord, den wir auf unserer Reise nicht sehen werden. Bald schon biegen wir in einen schmalen Seitenarm ein, den Norangsfjord, an dessen Ufern das Dorf Urke liegt. Unser Schiff ist zu groß, um anzulegen, deshalb steigen wir in ein Tenderboot um. Eine gute Stunde haben wir Zeit für unseren ersten Landgang.
53 Menschen leben in Urke, darunter zehn Kinder. Am Hafen begegnen sie uns, eine fröhliche Schar Jungs und Mädchen in quietschgelben Warnwesten, die mit mehreren Betreuer*innen unterwegs sind. Regen und Nebel sind ihnen offenkundig völlig wurscht.
Familienland Norwegen
Norwegen gilt als familienfreundliches Land. Was das konkret heißt, wird bereits für flüchtige Betrachterinnen sichtbar: Schon in Oslo war uns beispielsweise aufgefallen, wie sehr bei der Stadtplanung auch an Kinder gedacht wird. Spielplätze finden sich quasi überall dort, wo Menschen zusammenkommen.
Bereits an Nachmittagen sieht man viele Familien zusammen unterwegs (und nicht, wie bei uns, eine mehr oder weniger abgehetzt wirkende Mutter allein mit Kind im Schlepptau). Der legendär frühe Feierabend der Norweger macht das möglich – und eine ausgeprägtere Selbstverständlichkeit für Männer und Frauen, sich die Familienarbeit zu teilen.
In der Regel sind beide Eltern berufstätig, und auch Vollzeitstellen sind häufig mit familienfreundlichen Arbeitszeiten für Mütter und Väter ausgestaltet. Niemand, so entnehmen wir Erfahrungsberichten, wird scheel angeguckt, wenn er pünktlich Feierabend macht oder ein Meeting früher verlässt, weil er zur Kita muss – auch Männer nicht.
Während der Elternzeit bekommen norwegische Familien bis zu 56 Wochen (13 Monate) lang 80 Prozent des Gehalts, bei 45 Wochen sind es 100 Prozent. Ähnlich wie bei uns verfällt der Anspruch für Väter, wenn sie keine Mindest-Elternzeit nehmen.
Ab dem ersten Lebensjahr haben Kinder Anspruch auf den Platz im Kindergarten. Die meisten Eltern machen davon Gebrauch: 80 Prozent der Kleinkinder gehen in die ganztägige Betreuung. Zu ihnen gehören offenbar auch die Steppkes, die an diesem Morgen im Dorf Urke am Norangsfjord lachend durch die Pfützen stapfen.
Sie und wir, die Ausflügler von der MS Spitsbergen, sind die einzigen, die bei dem Sauwetter draußen unterwegs sind. Katzen betrachten uns mitleidig aus den Holzhäusern, während wir unseren Rundgang durch das Dorf machen.
Es gibt ein Ladengeschäft, eine Gärtnerei, die auch Gemüse verkauft, ein Hafencafé, ein lokales Kraftwerk – und eine ganze Reihe von Ferienhütten, denn Urke liegt in einem beliebten Wandergebiet und ist im Sommer bevorzugtes Ziel von Touristen, die Ruhe und Natur mögen.
14 der 53 Dorfbewohner finden ihr Auskommen direkt im Dorf. “Wir, die wir hier wohnen und uns erholen, mögen unseren friedlichen und schönen Ort”, schreiben die Einwohner in einem Flyer, den ein Mann am Hafen uns in die Hand gedrückt hat. “Brauchen wir sonst noch was, fahren wir nach Ørsta oder Ålesund. Aber am liebsten mögen wir hier selbstversorgt sein.”
Nach Ålesund machen auch wir uns nun auf den Weg. Farvel, Urke!
Ålesund, die Jugendstil-Stadt
Eine umgefallene Petroleumlampe ist der Grund dafür, dass das Zentrum von Ålesund heute ein einmaliges Häuserensemble vorweisen kann, das zahlreiche Gäste anlockt. In der Nacht auf den 23. Januar 1904 löste sie in einer Fabrik ein Feuer aus, das den Ort mit seinen 850 Häusern komplett niederbrannte. Der Wiederaufbau erfolgte innerhalb weniger Jahre und im Stil der damaligen Zeit. So reiht sich in der Stadt mit heute knapp 50.000 Einwohnern eine Jugendstil-Fassade an die nächste.
Die Sonne geht in diesen Breiten und zu dieser Jahreszeit gegen 15:30 Uhr unter, und so ist es bereits dunkel, als wir Ålesund gegen 17 Uhr erreichen. Wir haben zwei Stunden Aufenthalt und nutzen die Zeit, um uns ausgiebig umzusehen. Die Stadt erstreckt sich über mehrere kleine Inseln, die über Brücken miteinander verbunden sind.
In der Nähe des Hafens erinnern Stelen mit Fotografien an die Brandkatstrophe von 1904. Auf den Bildern ist auch Wilhelm II. zu sehen: Der letzte deutsche Kaiser war Norwegen-Fan und kam regelmäßig zum Urlaub hierher. Dass er den Wiederaufbau der Stadt tatkräftig unterstützte, dankt Ålesund ihm mit einem Denkmal und einer nach ihm benannten Straße. In der Keiser-Wilhelm-Gate findet sich auch ein Lokal namens Keiser Pub & Bar.
Einen guten Eindruck von der Stadt im Tageslicht und ihrer bemerkenswerten “Phönix-aus-der-Asche”-Story gibt dieses Video, in dem auch die nahe Insel Runde kurz zu sehen ist – bewohnt von 100 Menschen und (im Sommer) 500.000 Vögeln.
Rosen-Stadt Molde
Um viertel vor 10 am Abend erreichen wir Molde, die “Stadt der Rosen”. Unser Schiff wird hier nur für eine halbe Stunde am Kai vertäut. In manchen Häfen auf der Strecke, in der Regel sind es jene, die nachts angelaufen werden, legt das Schiff sogar nur ein Viertelstündchen an – gerade Zeit genug, um Fracht aus- oder einzuladen und Kurzzeit-Passagiere ein- oder aussteigen zu lassen. Briefpost wie früher befördern Hurtigruten übrigens längst nicht mehr – auch wenn das Unternehmen an der nostalgischen Beschreibung “Postschiff-Reise” festhält.
Geschützt am Moldefjord gelegen und, wie die gesamte norwegische Küste, vom Golfstrom begünstigt, bekam der Ort seinen Namen vom fruchtbaren Boden (“mold”). Das milde Klima lässt hier sogar Rosen gedeihen. Jahrhundertelang lebte man in Molde von der Holzproduktion und vom Fischfang, insbesondere vom Hering.
“Moldejazz”, das älteste Jazzfestival Europas, findet seit 1961 jährlich statt, und auch ein Literaturfest zieht regelmäßig Besucher*innen an. Unser Schiff fährt in der Dunkelheit an einem weiteren Wahrzeichen vorbei, dem Hotel Rica Seilet, das die Gestalt eines Segels hat.
Die Deutschen haben Molde 1940 dem Erdboden gleichgemacht. Es ist eine Geschichte, die wir in Variationen auf unserer Reise durch Norwegens Städte und Dörfer wieder und wieder hören werden.
Die Nacht ist über Norwegen hereingebrochen, und unser Schiff setzt seine Fahrt fort. Wenn es wieder hell wird, werden wir Trondheim anlaufen, die frühere Hauptstadt und das Ziel vieler christlicher Pilger. Darüber in Kürze mehr an dieser Stelle!
Teil 1: Bergen: Wir gehen an Bord
Teil 2: Hjørundfjord – Urke – Ålesund – Molde
Teil 3: Kristiansund – Trondheim – Rørvik
Teil 4: Polarkreis – Bodø – Lofoten
Teil 5: Vesterålen – Tromsø
Teil 6: Honningsvåg – Nordkapp – Kjøllefjord – Mehamn
Teil 7: Berlevåg – Kirkenes – Berlevåg
Teil 8: Barentssee – Hammerfest – Tromsø
Teil 9: Harstad – Risøyrenna – Stokmarknes – Svolvaer
Teil 10: Polarkreis II – Sandnessjøen – Brønnøysund – Rørvik
Teil 11: Über Trondheim zurück nach Bergen
Merci für den zweiten Teil des Reiseberichts. Lachen musste ich über die Katzen, die Euch im Regen Umherstapfende mitleidig durch die Fenster beobachteten. :-)
So viele Erinnerungen kommen beim Lesen Deines Berichts wieder hoch. Schade, eigentlich, dass für die Landgänge im Regelfall immer nur so wenig Zeit bleibt. Klar, wenn es nur ein kleiner Weiler oder kleiner Ort ist, reicht es allemal, aber Ålesund und Molde, da kann man durchaus etwas mehr Zeit verbringen, um alles zu erkunden.
Immerhin wisst Ihr am Ende der Reise, welche Städte man nochmal mit etwas mehr Zeit im Gepäck besuchen könnte.
Danke für deinen Kommentar, Liisa. In vielen Häfen hatten wir auch drei oder vier Stunden Aufenthalt, das erlaubt ausgiebige Erkundungsgänge – aber speziell in Trondheim, Tromsø, Ålesund und auf der Insel Magerøya, wo auch das Nordkapp liegt, hätte ich gerne noch viel mehr Zeit verbracht.
Wie du schon sagst: An manche Orte sollte man einfach nochmal zurückkehren. :)