Friesen können offenbar sehr nachtragend sein. Wenn sie sich mal spinnefeind sind, dann kann das schon ein paar hundert Jahre anhalten. So scheint sich das jedenfalls zwischen den Einwohnern der Stadt Wyk, die mehr als die Hälfte der Inselbevölkerung ausmachen, und der Bevölkerung von Föhr-Land mit den Inseldörfern zu verhalten. Wyk und der Rest der Insel, so habe ich von einer kundigen Föhrerin gelernt, kabbeln sich seit 400 Jahren. Und das kam so.
Vor langer langer Zeit ist Boldixum Hauptort auf der Insel, und ein paar Kilometer weiter an der Bucht (oder, wie die Friesen sagen, “bi de Wyk”) gibt es nichts als zwei Fischerhütten und, ab 1601 herum, eine erste Kneipe, denn Schiffer schlagen hier Ladungen um, und wo Seeleute sind, braucht es eine Gastwirtschaft, das ist ein Naturgesetz.
Die Buchardiflut von 1634, eine der “Groten Mandränken” mit Abertausenden von Toten, verschluckt in Nordfriesland ganze Halligen. Auf den Inseln stranden Menschen auf der Suche nach einer neuen Lebensgrundlage. Was mögen die Föhrer gedacht haben, als all die Halligflüchtlinge plötzlich auf ihrer Insel standen? Vermutlich das, was Europäer denken, wenn Afrikaner sich bis Lampedusa durchschlagen, oder Deutsche, wenn Rumänen und Bulgaren von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch machen: Wir haben ja nichts gegen Fremde, aber diese Fremden sind nicht von hier.
Und Fering (Inselfriesisch) sprechen sie auch nicht. Ins Wasser können sie ja nun auch nicht zurück, wohin also mit ihnen? Hey – da ist doch noch Platz drüben bi de Wyk! Sollen sie doch dort leben, da sind sie aus den Füßen, und wir haben hier in Boldixum unsere Ruhe.
Und so kam es, dass Wyk nicht von Insulanern, sondern vor allem von Flüchtlingen, von Fremden, von Zugezogenen zu dem gemacht wurde, was es heute ist: Umschlagplatz für Waren, Hafen, Handelszentrum, Kurort, Seebad, Stadt. Und am Ende nimmt es Boldixum nicht nur den Status als Hauptort ab, sondern schluckt es mit der Eingemeindung auch noch. Unerhört.
Vielleicht haben die Landföhrer das den Wykern nie ganz verziehen, vielleicht haben sich die Wyker bewusst separiert – das Verhältnis scheint jedenfalls von Beginn an von Misstrauen und Neid geprägt zu sein. Es wird jahrhundertelang weiter gestritten, um Steuern und Hafenbau und Flutschutz. Eine Abneigung für die Ewigkeit, wie es scheint: Noch heute, so erzählt es die Stadtführerin, könne man bei Festen und Versammlungen beobachten, dass sich Kinder und Jugendcliquen aus Föhr-Land und Wyk voneinander fernhalten.
Zwei weitere Geschichten fallen mir ein, die von Lagerdenken auf der Insel erzählen. Nach dem Ersten Weltkrieg durften Regionen, Städte und Gemeinden in Schleswig abstimmen, ob sie zu Deutschland oder wieder, wie vor 1864, zu Dänemark gehören wollen. Auf Föhr gingen dem erbitterte Diskussionen voran, die ganze Familien spalteten. Vermutlich war das aber überall im Schleswig so …
In jüngerer Zeit sahen vor allem die Nachbarn Dänemark und Niederlande kopfschüttelnd zu, wie sich der Rat der Stadt Wyk mehrheitlich gegen die Umbenennung einer Straße wehrte. Man schrieb 1980, und eine der meist frequentierten Straßen in der Wyker Fußgängerzone hieß immer noch nach einem Flieger-General, Offizier und Wehrmachtsbefehlshaber in den besetzten Niederlanden, der nach 1945 wegen Kriegsverbrechen zu zwölf Jahren Gefängnis verurteilt worden war. (Hier ein Einschub, der nicht zwangsläufig im Zusammenhang damit steht: Auf Föhr gab es schon bei den Wahlen von 1925 eine starke Tendenz zu den Rechtsparteien – so jedenfalls ist es der Inselchronik zu entnehmen, die im Bücherregal der Kapitänsstube steht, in der ich wohne.) Die Empörung war groß, die öffentliche Debatte hitzig – und am Ende waren es die Nachfahren des umstrittenen Namensgebers (und zeitweiligen Ehrenbürgers), die den Rat baten, die Straße umzubenennen. Seither heißt sie Große Straße.