Vom Südwesten Berlins führt unsere dritte Mauerweg-Etappe auf weiten Strecken am Wasser entlang in den Nordwesten der Stadt. Unterwegs passieren wir den Schauplatz einer der spektakulärsten Fluchten aus der DDR und hören die unglaubliche Geschichte eines kleinen Jungen – ein kleiner Schwindel machte ihn 1961 zum Symbol der Teilung.
Wunderschön ist es im Südwesten von Berlin: Wasser und Wälder, wohin man blickt. Zu DDR-Zeiten versperrten vielerorts Mauern die Sicht, etwa am Schloss Cecilienhof, wo der hässliche Betonwall direkt an der Uferlinie errichtet worden war. Wir überqueren ein zweites Mal die Glienicker Brücke und radeln dann am Jungfernsee entlang in Richtung Wannsee.
Das Wirtshaus Moorlake liegt so idyllisch an einer Bucht, dass man sofort einkehren möchte. Schon kurze Zeit darauf das nächste Wirtshaus. Hier legt eine Fähre hinüber zur Pfaueninsel ab. Wir aber müssen weiter. Vor uns im Wald wartet die so ziemlich einzige längere Steigung des Berliner Mauerwegs – hat man sie bewältigt, rollt es sich gemütlich bis nach Wannsee herab. Links ab geht es durch den quirligen Berliner Stadtteil bis zum See und zur Fähre – unser Mauerweg verläuft hier übers Wasser. Falls gerade ein Schiff ablegt: Nichts wie an Bord, Tickets kann man auch dort bekommen. Wer noch Zeit hat: In der Nähe der Ablegestelle ist das Kleist-Grab zu finden. Bestimmt lohnt es sich, dem Hörspiel-Parcours zu folgen, der die Ereignisse des 21. November 1811 am Kleinen Wannsee nacherzählt – der Tag, am dem Heinrich von Kleist zunächst seine Freundin Henriette Vogel und dann sich selbst erschoss. Kopfhörer und Audioplayer bekommt man am S-Bahnhof Wannsee.
Auf halbem Wege überm See taucht links am Ufer eine Fassade auf, die man aus Schwarz-Weiß-Filmen kennt. In diesem Gebäude, idyllisch zwischen Bäumen gelegen, mit wunderschöner Aussicht auf den Großen Wannsee, organisierten oberste Nazis 1942 die Deportation der europäischen Juden und den industriellen Massenmord. Protokolle und Tondokumente sind auf der Website der Gedenkstätte Haus der Wannseekonferenz veröffentlicht.
Nach dem Anlegen in Kladow führt der Mauerweg linkerhand weiter, durch den Ort und einen Wald, und schon wieder taucht zwischen den Bäumen Wasser auf: Die Grenze verlief mitten durch den Groß Glienicker See, der Radweg verläuft auf der ehemals ostdeutschen Seite, leider nicht direkt am Ufer entlang, sondern durch ein Wohngebiet. Auf der nun folgenden lange Gerade an der Postdamer Chausee lässt sich lecker Rast machen im Café Montalis: Hier gibt’s definitiv den besten Büsumer Kräutermatjes außerhalb von Büsum!
Rechts BRD, links DDR
Eigentlich leicht zu merken, aber wir müssen es uns immer mal wieder in Erinnerung rufen, wo welche Seite des Eisernen Vorhangs war. Am dritten Tag bewegen wir uns nach Norden – und plötzlich liegt der ehemalige Osten westlich, der ehemalige Westen östlich von uns. Verwirrend.
Die Etappe auf der Karte (55 Kilometer inklusive Fähre)
Die vielen Exklaven (oder Enklaven, je nach Standort) machen die Orientierung nicht gerade leichter. Eiskeller war so eine. Im Sommer der heißeste, im Winter der kälteste Ort Berlins, benannt nach den Eisbrocken, die Arbeiter einer Brauerei bis Mitte des 20. Jahrhunderts aus dem Falkenhagener See sägten, um das Bier zu kühlen. Ein kleiner Flecken BRD, eingeschlossen von der DDR, drei Bauernhöfe, rund 20 Menschen. Bis zu einem Gebietstausch kurz vor der Wende war Eiskeller nur durch einen schmalen Korridor mit Spandau verbunden, links und rechts des Weges: der Sowjet-Sektor. Es war der Schulweg des zwölfjährigen Erwin. Nachdem er berichtet hatte, dass Volkspolizisten ihm den Durchgang verwehrt hätten, gab die britische Armee ihm Begleitschutz. Das Bild eines Schulbuben auf dem Fahrrad, eskortiert von einem mit bewaffneten Soldaten besetzten Militärfahrzeug, ging um die Welt und kam den westlichen Alliierten durchaus gelegen.
„Erwin wurde eines Tages von bis an die Zähne bewaffneten Vopos der Weg verstellt. Wie Wegelagerer in dem nur kleinen Pfad, der Eiskeller mit West-Berlin verbindet, forderten sie den Schüler auf, sofort wieder umzukehren. Die Ulbricht-Soldateska scherte sich nicht darum, daß sie mitten auf Westberliner Gebiet standen.”
Spandauer Volksblatt vom 13. August 1961
Erst 33 Jahre später wird Erwin S. in einem Zeitungsinterview gestehen: War alles geschwindelt. Er habe einfach keine Lust auf die Schule gehabt: “Ich suchte eine Ausrede und dachte sofort an die Grenzer der DDR, die ich jeden Tag beobachten konnte”, sagte er 1994 der Berliner Zeitung.
Nachzulesen ist diese Geschichte an einer Dokumentationsstätte an der Heerstraße bei Staaken. Eine Rast mit ausführlicher Lektüre lohnt sich. Hier erfährt man auch von einer spektakulären Eisenbahnflucht, die sich nicht weit entfernt zugetragen hat. Nur wenige Kilometer von hier kappte die Grenze nicht nur die Straße zwischen Falkensee und Spandau, sondern auch die Bahnstrecke. Allerdings nicht von Anfang an: Erst ab 10. Dezember 1961 wollte die DDR die Strecke endgültig sperren und den Grenzbahnhof Albrechtshof stilllegen. Als Lokführer Harry Deterling aus Oranienburg davon hörte, handelte er. Am 5. Dezember 1961 ließ er sich die Strecke Oranienburg – Albrechtshof zuteilen. Er sorgte dafür, dass ein eingeweihter Heizer die Schicht mit ihm teilte, setzte die Notbremse außer Betrieb und nahm 14 Verwandte an Bord seines Zuges. Langsam rollte er am Bahnhof der Endstation ein – und gab dann Gas. Lok und Waggons durchbrachen das Grenztor und kamen erst in West-Berlin zum Stehen.
Durch den Spandauer Forst führt die Strecke wieder ans Wasser – die Havel hat uns wieder. Der Strand, an dem wir stehen, trägt den schönen Namen “Bürgerablage”. Uns zieht es weiter, am Ufer des Nieder-Neuendorfer Sees entlang nach Hennigsdorf, dem Etappenziel. Ein letzter Zwischenstop empfiehlt sich am Nieder Neuendorfer Grenzwachturm auf einer kleinen Anhöhe am Ufer, den man besichtigen kann. Von hier oben beobachteten die Grenzsoldaten den Klassenfeind auf der anderen Seite des Sees – und vor allem ihre eigenen Landsleute.