Rund um das alte West-Berlin, immer an der früheren Sektorengrenze entlang: Die Radtour auf den Spuren der deutsch-deutschen Teilung führt über damals brutal entzwei geschnittene Straßenzüge, durch Waldschneisen, die als Todesstreifen dienten, über einst verrammelte und heute verbindende Brücken, vorbei an Kanälen und Seen, in denen Menschen auf der Flucht im Wasser versanken, getroffen von Schüssen der DDR-Grenzer. 50 Opfern des Schießbefehls bin ich auf dem Berliner Mauerweg begegnet.
Wie viele Menschen ihren Fluchtversuch aus der DDR in und um Berlin tatsächlich mit dem Leben bezahlten, weiß niemand genau. 136 Mauertote zählt das Zentrum für Zeithistorische Forschung, andere Quellen sprechen von mehr als 250. Sie kletterten über die Hinterlandmauer, schnitten sich durch Zäune, durchkrochen den Todesstreifen, überwanden Kfz-Sperrgräben, schleppten Leitern zu den Betonabsperrungen. Sie durchschwammen einen der vielen Kanäle, die Spree, die Havel oder den Humboldthafen wie Günter Litfin, der kurz vor dem Erreichen des West-Berliner Ufers von einer Kugel getroffen versank. Sie gruben Tunnel oder sprangen aus den Fenstern ihrer Wohnungen wie die 58-jährige Ida Siekmann in der Bernauer Straße, die sich dabei 1961 tödlich verletzte. Sie gilt als das erste Opfer der Mauer. Günter Litfin war der erste Ost-Berliner, der auf der Flucht erschossen wurde.
Von der lärmenden Mitte in den ländlichen Süden
Vier Tage nehmen wir uns Zeit für die offiziell 160 Kilometer im Uhrzeigersinn auf dem Berliner Mauerweg. Mit (nicht immer freiwillig gewählten) Abstechern hier und da werden wir am Ende fast 190 Kilometer auf dem Tacho haben. Trotzdem: Es sind recht gemütliche vier Etappen, die uns Zeit zum An- und Innehalten lassen. Überall an der Strecke gibt es Gedenk- und Dokumentationsstätten, einige sind in ehemaligen Wachtürmen untergebracht. Rund 30 Stelen markieren entlang des Weges die Schauplätze von insgesamt 50 tödlichen Fluchtversuchen.
Am ersten Tag geht es von Berlin-Mitte bis nach Lichtenrade im Südosten der Stadt. Im Nieselregen starten wir an der Niederkirchnerstraße, die noch immer von einem (eingezäunten) löchrigen Stück der Mauer gesäumt wird. Sie grenzt die Straße zu dem Areal ab, auf dem früher die Gestapo-Zentrale stand, heute der Dokumentationsort Topografie des Terrors.
Die ersten Kilometer durch Kreuzberg und Friedrichshain radeln wir an der zweireihigen Markierung aus Kopfsteinpflaster entlang, die den Verlauf der Mauer im Asphalt nachzeichnet. In manchen Straßen rückte sie den Fassaden unglaublich dicht auf die Pelle – kaum vorstellbar, wie es sich lebte, wenn man die Mauer beim Heraustreten aus dem Haus so nahe vor Augen hatte.
Vorbei an einer Wagenburg am Bethaniendamm, geht es über die Schillingbrücke zur East Side Gallery, wo wir auf eine neue Mauer treffen – eine aus Touristenbussen. Der Rummel an der berühmten und derzeit so umkämpften Wandbildgalerie treibt uns schnell wieder auf die andere Seite der Spree, diesmal über die schöne Oberbaumbrücke, die einmal Grenzübergang für Fußgänger war. Am Schlesischen Busch passieren wir einen Wachturm und nehmen zum ersten Mal die Kirschbäume bewusst wahr, die uns auf der Tour immer wieder begegnen werden. Japanische Berlin-Freunde spendeten 10.000 davon aus Freude über die Wiedervereinigung. In Teltow werden wir am nächsten Tag durch die längste, rosarot blühende Kirschblütenallee der Stadt radeln.
Die Sonnenallee passieren wir, ohne es zu bemerken. Eine Brücke über den Britzer Zweigkanal stellt die erste (und so ziemlich einzige) Herausforderung dar: Wir müssen die beladenen Räder eine steile Treppe hochwuchten. Erst oben fällt uns auf, dass es einen anderen, fahrbaren Weg gegeben hätte. Wir passieren die Stelle, wo Chris Gueffroy starb, eines der bekanntesten Maueropfer. Der 20-Jährige glaubte im Februar 1989, an der Grenze werde nicht mehr geschossen. Ein tödlicher Irrtum. Die beteiligten Grenzer wurden vom Regime für ihre gezielten Schüsse mit 150 Mark Prämie belohnt. Im ersten Mauerschützenprozess gab es eine Verurteilung, die später zur Bewährung ausgesetzt wurde. Ich erinnere mich noch an Fernsehbilder einer kämpferisch wirkenden Mutter.
Wir rollen auf glattem Asphalt am Teltowkanal entlang, der hier die Grenze bildete und Schauplatz weiterer Fluchtversuche war. Erstaunlich viele trotzen heute dem trüben Wetter – es ist Feiertag, und diese Strecke offensichtlich beliebt bei Radlern und Skatern.
Mauern, Zäune, Signalanlagen, Todesstreifen: Die Grenze
An der Rudower Höhe stoßen wir wieder auf ein Mauerstück, ein Teil der “hinteren Sicherungsmauer”. Die DDR hatte ihr Volk hinter einer ganzen Reihe von Sperrelementen eingeschlossen. Die hintere Sicherungsmauer bildete das erste höhere Hindernis. Auf der “feindwärts” gelegenen Seite war die Mauer weiß gestrichen, damit Flüchtende besser erkennbar waren. Es folgte ein Signalzaun, der bei Berührung akustisch und optisch Alarm auslöste – in späteren Jahren merkten die Flüchtenden davon nichts und wähnten sich unentdeckt, während die Grenzer sie bereits lokalisiert hatten. Die saßen in der Führungsstelle, meist ein klobiger Turm, und den weiteren Beobachtungstürmen, an denen der Kolonnenweg verlief. Wo früher die Grenztruppen patrouillierten, verläuft heute unser Radweg. Auch einige der alten Peitschenlampen, die den Todesstreifen ausleuchteten, werden wir auf unserem Weg noch sehen.
Wer es auf seiner Flucht bis hierher geschafft hatte, musste noch eine weitere 40 Meter breite Schneise und schließlich die vordere Sperrmauer überwinden. Oft war sie oben mit einer Betonröhre abgeschlossen, damit die “Republikflüchtlinge” keinen Halt fanden. Dahinter lag die Sektorengrenze. Wenn man sich diese Skizze der Sperranlagen betrachtet, wundert es, dass es überhaupt jemand versucht hat – auch, wenn es eine Selbstschussanlage in Berlin nicht gab.
Südlich der Rudower Höhe lesen wir die Geschichte des Spionagetunnels, den Amerikaner und Briten hier gebaut hatten, um die Telefonverbindungen der Sowjets in der DDR anzuzapfen. Mit der Abhörtechnik in dieser Röhre gelang es Mitte der 50er Jahre den Alliierten, hunderttausende Gespräche mitzuschneiden, bis der Tunnel nach knapp einem Jahr entdeckt war.
Ländlich ist es inzwischen um uns herum geworden. Die Stadtkante im Süden Berlins geht so abrupt Grüne über, als würden hier noch immer zwei Welten aneinanderprallen. Rechts erheben sich die Wohntürme von Gropiusstadt, links blüht knallgelb der Raps. Wie abgeschnitten vom Umland wirkt Berlin hier. Das hektische Mitte ist weit weg. In Lichtenrade, dem ersten Etappenziel, kommt endlich die Sonne heraus. Bis hierher waren es 42 Kilometer. Nicht weit vom Radweg liegt das kleine, familiäre Hotel Lichtenrade, und sehr gut zu essen bekommt man im Restaurant Reisel in der Straße Alt-Lichtenrade.
Der Berliner Mauerweg im Überblick
Der GPS-Track weicht hier und da vom Radweg ab – etwa, um das jeweilige Hotel anzusteuern. Oder einfach, weil wir uns verfranst hatten. ;) Den exakten Verlauf des Berliner Mauerwegs als GPX-Track findet man u.a. im Radreise-Wiki.
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