Das kleine Dorf Symondsbury liegt ein paar Kilometer von der südenglischen Küste entfernt nahe Bridport in der Grafschaft Dorset. Ringsherum schlägt die Landschaft saftig-grüne, von Hecken gestreifte Wellen. An einem Herbsttag vor 60 Jahren kam meine Mutter mit klopfendem Herzen und einem Köfferchen hier an, um als Au-Pair in Symondsbury Manor für die Familie von Lord und Lady Colfox zu arbeiten. Sir Philip Colfox hatte Symondsbury Manor (in dem im 19. Jahrhundert unter anderem der Schriftsteller Thomas Hardy verkehrte) 1922 gekauft; sein Sohn John und dessen Familie stellten meine Mutter ein. Das war Anfang der 50er Jahre, und gerade im Süden Englands, wo deutsche Bomberpiloten viel zerstört hatten, muss die Erinnerung an Nazi-Deutschland noch gegenwärtig gewesen sein.
Wenn meine Mutter von ihrer Zeit hier erzählte, hatte ich immer Bilder aus der TV-Serie “Das Haus am Eaton Place” vor Augen. Wie das Personal dort hatte sie Schürze und Haube zu tragen und am Morgen den Tee im Schlafraum der Herrschaften zu servieren. Sie hielt es dort nicht lange aus: Noch vor dem Winter packte sie ihre Sachen und machte sich auf den Weg nach London, wo sie ein knappes Jahr bei einer netten Familie lebte und arbeitete.
Vor 17 Jahren besuchte sie Symondsbury Manor ein zweites Mal, und ich durfte sie begleiten. Wir gingen die versteckte Auffahrt neben der Kirche hinauf. Beim Anblick des großen Anwesens blieb mir die Spucke weg. Sie zeigte mir das Dachfenster, hinter dem sich damals ihr Zimmer befand, und kam mit einem Mann ins Gespräch, der uns schließlich anbot, kurz hereinzukommen.
Jetzt bin ich noch einmal nach Symondsbury zurückgekehrt. Die Auffahrt ist noch versteckter als damals – ich habe sie fast übersehen. Die Bäume rings um das Haus sind viel höher, und der wilde Wein, der damals nur bis zum ersten Stock reichte, wuchert nun die Fassade hinauf bis zum Dach. Man kann Symondsbury Manor heute mieten – als Ferienhaus für 23 Personen. Wenn ich noch einmal hierher komme, dann bringe ich 22 Freundinnen und Freunden mit. :)
PS: Als ich in Symondsbury aus dem Auto steige, singt plötzlich jemand aus meiner Hosentasche. Mit einer Bewegung muss ich die Musik-App des Handys aktiviert haben – was zuvor noch nie passiert ist. Die Song-Reihenfolge war auf “zufällig” gestellt. Und so singt tatsächlich Herbert Grönemeyer genau in dem Moment “Deine Zeit”, ein Lied für seine Mutter, als ich an einer Station im Leben meiner Mutter ankomme. Ein Zufall, klar. Aber ein verdammt schöner.