Der Dam ist schwarz von Menschen und Fahrrädern. Kein Wunder, es ist Samstag, und dies ist einer der zentralen Plätze von Amsterdam. Und es ist der Ort, an dem vor 800 Jahren alles begann.
Eine der größten Boulevards Amsterdams geht hier vorbei: Nach Nordosten heißt er Damrak und läuft geradewegs aufs Meer zu, bevor er abrupt am Hauptbahnhof endet, der wie ein Riegel Stadt und Wasser trennt. Ein prächtiges Gebäude, und ein Hybrid-Bau, wie ich ihn noch nie gesehen habe: auf der zum Land hin geneigten Seite ein normaler Bahnhof, auf der Wasserseite ein Hafen. Eine halbe Drehung auf dem Dam um die eigene Achse, und man schaut dem Boulevard, der ab hier Rokin heißt, nach Süden hinterher, wo er auf einen anderen Platz mündet, aber eigentlich geradewegs in die Amstel überzugehen scheint.
Und genau so war es auch einmal: Wo jetzt auf Damrak bzw. Rokin Autos im Stau stehen, Fahrradfahrer im Affenzahn vorbeiflitzen und Amsterdam-Besucher Rollkoffer hinter sich herziehen, war früher – Wasser. Diese Straße entstand auf dem zugeschütteten Flussbett der Amstel, und der Dam war kein von Straßenverkehr umtoster Platz, sondern ein kleiner Übergang über den Fluss – und die Keimzelle von Amsterdam. Auf alten Stadtplänen kann man das noch gut erkennen.
Während ein Teil der Amstel also im Laufe der Jahrhunderte zugeschüttet wurde, entstanden ringsherum die Grachten, künstlich angelegte Wasserwege, die das Herz der Stadt wie ein Spinnennetz umschließen. Drei Meter tief seien sie: ein Meter Wasser, ein Meter Schlamm, ein Meter Fahrräder, witzeln die Amsterdamer. Über der Wasseroberfläche sind rund 600.000 Stück davon unterwegs, nahezu so viele wie Einwohner, und mit Fug und Recht kann ich behaupten, dass sie für unbedarfte Fußgänger eine größere Gefahr darstellen als Autos und Taschendiebe zusammengenommen. Die meisten Straßen sind erstaunlich klein und gepflastert, die Grachtenhäuser schmal (blieb man unter sechs Metern Breite, war die Steuer deutlich niedriger), dafür hoch und tief und von einer Vielzahl unterschiedlich geformter Giebel gekrönt. Einige scheinen vornüber oder zur Seite zu kippen, weil die Balken, auf denen sie ruhen, an die Luft gekommen sind und deshalb zu faulen begonnen haben. Ein ausgeklügeltes technisches Pumpsystem sorgt dafür, dass der Wasserstand in Grachten und Amstel auf einem bestimmten Niveau bleibt. So scheint Amsterdam, obwohl es unter dem Meeresspiegel liegt, vor Hochwasser weitgehend geschützt.
An der Prinsengracht, neben der Westerkerk mit ihrem hohen Aussichtsturm, steht eines der berühmtesten Hinterhäuser der Welt. Wer sich nicht vorab online ein Ticket besorgt (das empfiehlt sich zum Beispiel auch fürs Van-Gogh-Museum), muss vor allem an Wochenenden hier lange anstehen. Dann geht es durch leere Kontorräume, eine steile Treppe hinauf, in ehemalige Büros – bis man schließlich vor dem bekannten Bücherregal steht. Es ist zur Seite gedreht und gibt Weg und Blick auf das Versteck frei, vier Räume, ein Bad und eine Dachkammer, in denen Anne Frank mit Eltern, Schwester und vier weiteren Personen zwei Jahre lang untergetaucht war.
Die Zimmer sind unmöbliert, klein und auch tagsüber dunkel, die Fenster mit dichtem Stoff blickdicht verschlossen, wie in den Jahren 1942 bis 1944. An einer Wand sind die Kugelschreiber-Markierungen von Otto Frank zu sehen, der das Wachstum seiner beiden Töchter mit Strichen und Daten auf der Tapete dokumentierte. Annes schmales Zimmer ist schon für eine Person winzig – zu wissen, dass sie mit einem Bekannten der Familie teilen musste, lässt es noch weiter schrumpfen. Ein paar Bilder von Filmstars finden sich noch an den Wänden, wo Anne sie vor 70 Jahren hinklebte. Komisch: Wie selbstverständlich nenne ich das Mädchen beim Vornamen, dabei wird mir gerade bewusst: Sie gehört zum selben Jahrgang wie mein Vater. Der wird in wenigen Wochen 83 Jahre alt.
In einem Ausschnitt aus einem Dokumentarfilm, der im Anne-Frank-Haus gezeigt wird, erzählt ihr Vater Otto Frank von dem Tagebuch, das er – der einzige Überlebende der Familie – nach dem Krieg veröffentlichte. Er sei beeindruckt gewesen von der Tiefe der Gedanken seiner Tochter. Selbst wenn sie sich noch so nahestünden: Eltern, sagt Otto Frank, würden ihre Kinder nie ganz und gar kennen. Ja, denke ich: Das stimmt wohl.
Wieder zuhause, nehme ich das Tagebuch von Anne Frank aus dem Regal, puste den Staub vom Buchblock, schlage es auf – und stelle fest: Es ist genau 30 Jahre her, das ich es geschenkt bekam. Ich war so alt wie Anne Frank, als sie in ihrem Versteck im Hinterhaus saß und davon träumte, eines Tages eine bedeutende Schriftstellerin zu sein.
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