Dieser Tage den Film “Bobby” gesehen (Trailer), der am 4. Juni 1968 spielt – der Tag, bevor Robert Kennedy ermordet wird. Ein Episodenfilm, der sich vordergründig nicht um Kennedy dreht, sondern um sehr unterschiedliche Menschen in sehr unterschiedlichen Lebenssituationen, die sich – zufällig oder nicht – an diesem Tag im Ambassador Hotel in Los Angeles aufhalten. Hier feiert Senator Robert Kennedy den Sieg bei den Vorwahlen, und hier verkündet er gegen Mitternacht seine Entschlossenheit, Präsident der Vereinigten Staaten zu werden. Minuten später fallen die Schüsse.
Bobby Kennedy dient als Dreh- und Angelpunkt, und doch ist er in dem Film kaum zu sehen. Was man sieht, sind die anderen, ihre Geschichten, ihre persönlichen Dramen, ihre Hoffnungen, ihre Enttäuschungen. Da ist der in der Hotelküche schuftende Latino, dessen rassistischer Chef ihn davon abhalten will, zur Wahl zu gehen. Seine Geschichte mag erfunden sein, seine Figur basiert auf der des jungen Mannes, der neben dem verletzten Kenndy kniet und dessen Bild um die Welt gehen wird. Da ist die junge Frau, die in diesem Hotel einen ihr fast unbekannten Mann heiratet, um ihn vor einem Militäreinsatz in Vietnam zu bewahren. Da sind der ehebrechende Hotelmanager und seine Frau, die im Hotel als Kosmetikerin arbeitet und buchstäblich hinter die Fassaden blickt, die ihre Kundinnen mühsam zu errichten versuchen. Da sind die beiden Wahlkampfhelfer auf ihrem ersten LSD-Trip. Und da ist die tschechische Journalistin, die um ein Interview mit dem Senator kämpft und bei Kennedys Beratern die Angst auslöst, es könnte der Eindruck entstehen, der Senator sei mit dem Teufel Kommunismus im Bunde.
Auf den ersten Blick haben diese Menschen wenig gemein. Am Ende dieses Tages aber stehen sie alle gemeinsam in dem Ballsaal des Hotels und hören fasziniert Robert Kennedy zu, der vom Aufbruch in eine neue Gesellschaft spricht, vom Einebnen der Gräben zwischen Kulturen und Ethnien, Wohlhabenden und Armen, Alten und Jungen. Und allen gemeinsam steht das Entsetzen ins Gesicht geschrieben, als diese Hoffnung innerhalb weniger Sekunden stirbt.
In der JFK Museum & Library in Boston ist ein Raum dem kleinen Bruder gewidmet. Mir wurde erst dort, beim Lesen von Auszügen aus seinen Reden und Schriften, bewusst, dass Robert in vielem radikaler war als John. Er hat sich nicht nur als Justizminister mit der Mafia angelegt, er wollte Diskriminierung und Intoleranz in jeder Form beenden – im Amerika der 60er Jahre! Hätte er als Präsident seine Vision durchgesetzt? Wäre man zynisch, könnte man sagen: Er musste den Beweis ja nicht antreten.
Obama, der Hoffnungsträger von 2009, musste den Beweis antreten. Man kann täglich zuschauen, wie seine Visonen zwischen den Rädern des Politikbetriebs, von Kompromissen, parteipolitischem Kalkül und Kleinklein zerrieben werden. Vielleicht wäre es einem Robert Kennedy ähnlich ergangen.
Und bei uns? Manchmal möchte ich die Kanzlerin fragen, und zwar ernsthaft und ohne jeden Zynismus: Ist es das, was Sie sich vorgestellt haben, als Sie in die Politik gingen? Eine Getriebene zu sein, nicht eine Gestaltende? Die Macht zu bekommen, um dann machtlos zuzusehen, dass in Wahrheit andere Kräfte walten? Zu erleben, dass jede eigene politische Handlung nicht mehr ist als eine Reaktion auf die Realitäten, auf vermeintliche Notwendigkeiten, und nur dem einen Ziel dient: das (aus Ihrer Sicht) Schlimmste abzuwenden? Eine politische Vision, falls es je eine gab, nicht einmal mehr im Ansatz zu verfolgen, weil keine Zeit zum Atemholen, kein Raum für Ideen bleibt? Haben Sie sich das wirklich so vorgestellt, Frau Merkel?
Vielleicht hat Sie das alles aber auch gar nicht überrascht. Visionäre, charismatische Politiker gibt es hierzulande kaum. Willy Brandt könnte einem einfallen, aber das war’s dann auch schon. Womöglich hätten Politiker diesen Schlages bei uns – im Gegensatz zu Amerika – auch gar nicht so gute Aussichten, gewählt zu werden. Im Freundeskreis haben wir uns gefragt, warum das so ist, und kamen zu der These: Der Erfolg eines Kennedy oder eines Obama beruht vor allem auf Emotionen. Deutsche Politik ist aber nicht emotional. Wer bei uns ins Kanzleramt kommt, den hat politischer Pragmatismus längst abgeschliffen. Es scheint, als neigen wir in Deutschland dazu, die Dinge realistisch zu sehen, und unsere Regierung soll das bitte auch tun. Vielleicht glauben wir einfach nicht daran, dass sich viel verändern ließe. Ja, klar, wir fänden eine andere Gesellschaft, eine bessere Welt schon irgendwie gut, und kaufen im Biosupermarkt, sofern wir es uns leisten können, um das Gewissen zu beruhigen. Im Großen und Ganzen aber finden wir uns ab, arrangieren uns und versuchen, uns inmitten des Unabänderlichen wenigstens persönlich eine gute Ausgangsposition zu schaffen. Ist das so? Ist das bei euch so?
Schauen wir nur deshalb so voller Sympathie auf den arabischen Frühling, weil all diese Umwälzungen so angenehm weit weg sind? Immerhin, inzwischen ist eine gewisse Aufbruchstimmung sogar in Deutschland angekommen. Das ebbt vielleicht sang- und klanglos wieder ab. Vielleicht aber auch nicht.
Occupy Frankfurt: Das Zeltlager im Bankenviertel
Liebe Mo,
Deine Gedanken und Fragen in Deinem Artikel gefallen mir sehr.
Und – wie immer – sehr toll geschrieben.
Dora