Für eine, die noch zwei Stunden vor Beginn der Veranstaltung so gar keine rechte Lust darauf hatte, habe ich mich beim Eurovision Song Contest erstaunlich wohl und bestens unterhalten gefühlt. In Düsseldorf herrschte eine Atmosphäre wie bei der Fußball-WM 2006 – nur ohne nervige Fußballfans. Naja, fast.
Zwar sind in der Altstadt und in der U-Bahn auch ein paar besoffene Klappspaten unterwegs, aber glücklicherweise trollen die sich vor der Arena – oder sie trauen sich angesichts der Übermacht einfach nicht mehr, ihre homophoben Lieder anzustimmen. Stattdessen: Tausende gut gelaunte Menschen, jung, alt, mittelalt und ganz jung, aus scheinbar jeder Ecke Europas angereist, Fahnen um die Schultern und Landesfarben auf den Wangen, Perücken, Hüte oder die Flowbee-Frisuren der irischen Contest-Teilnehmer aus Pappe auf den Köpfen. 35.000 Leute auf dem Weg zu einer Halle, der man nicht mehr ansieht, dass sie eigentlich ein Fußballstadion ist – geht das gut? Es geht sehr gut, und das ist einer besonnenen Organisation zu verdanken.
Lukas behauptet ja, das Düsseldorfer Stadion habe nur einen Eingang. Wenn das tatsächlich so ist, merkt man davon nichts. Um 20:15 Uhr, so mahnt das Ticket, soll man auf seinem Platz sitzen. Locker zu schaffen, selbst wenn man erst um 20 Uhr an der Arena eintrudelt. Die Einlasskontrollen gehen zügig über die Bühne, die Sicherheitsvorkehrungen halten sich im üblichen Rahmen, Helferinnen und Helfer sind allgegenwärtig, so dass man nicht verloren gehen kann. Als sich die Flure rund um den Innenraum langsam lichten und die meisten Leute drinnen ihre Plätze eingenommen haben, gehe ich gemütlich noch einmal raus und hole Wasser. Draußen rückt da bereits die erste Putzkolonne aus.
Der Innenraum ist offensichtlich nach der Maßgabe gestaltet: Viel Luft, viel Platz, wenig Enge. Die sternförmig angeordneten Gänge zwischen den Stuhlblöcken im Innenraum sind gut und gerne zehn Meter breit, ebenso der Saum an den Außenrändern. Den ganzen Abend ist Bewegung in der Halle, es wird geradezu flaniert.
Von der Bühne aus windet sich ein Ausleger ins Publikum hinein, der allerdings von den Künstlern nur selten, vom Moderatoren-Trio Anke Engelke, Stefan Raab und Judith Rakers umso häufiger genutzt wird. Von deren Moderation bekommt man live leider wenig mit, aber dafür gibt’s ja die Mediathek. Eine Viertelstunde vor Beginn der Show hat ein Warmmacher namens Marco Laufenberg die Stimmung in der Arena vorsorglich angeheizt, und man muss sagen, er hat das gut hinbekommen.
Dann die Eröffnung – der absolute Knaller, nicht mehr zu toppen für den Rest des Abends. Wir schauen uns um: Unsere unmittelbare Nachbarschaft besteht aus einem guten Dutzend in Union Jacks gewickelten Engländern, zwei Damen mittleren Alters aus Ungarn, einer kleineren Ansammlung von Spaniern (von denen einer im Laufe des Abends den kompletten Rang unaufhörlich betanzt, seine Fahne wie beim Stierkampf neben die Hüfte gespannt) und, ein paar Reihen vor uns, ein vereinzelter Fan aus Aserbaidschan. Exotisch, denk ich noch so. Und: Wie heißt eigentlich deren Hauptstadt?
Die Stimmung ist also Anfangs großartig, lässt aber zwischendurch nach. Nach den ersten sieben, acht Songs macht sich eine gewisse Müdigkeit in der Arena bemerkbar, immer mehr Leute bleiben auf ihren Stühlen sitzen. Der Auftritt von Lena sorgt für ein Zwischenhoch, viele springen auf, beklatschen und bejubeln ein Lied, das so gar nichts Mitreißendes hat. Als sich der Wettbewerb dem Ende nähert, sind alle wieder wach, den Rest erledigt Jan Delay.
Dann teilt sich die LED-Wand, und dahinter tauchen 25 gigantische Joghurtbecher auf, gefüllt mit leckeren Schokoperlen Contest- Teilnehmern. Die Punkte nimmt eine sprachlich souveräne Anke Engelke entgegen, und was die Fernsehübertragung weitgehend verschluckt, sind die häufigen lautstarken Buhrufe, wenn Nachbarn sich gegenseitig hoch bewerten – außer natürlich bei Österreich und Deutschland, da ist das ja was ganz anderes.
Am Ausgang wird offenbar: Der Schock von Duisburg sitzt tief. Im abgesperrten Zickzackkurs werden die aus der Halle strömenden Besucher gebremst zum Bahnsteig geführt, wie Zinnsoldaten reihen sich Ordner vor den einfahrenden Zügen auf, jede Tür hat ihre eigene Aufsichtsperson. Der wahre Held, mein persönlicher Gewinner des Abends aber, der sitzt irgendwo verborgen – nur seine Stimme ist aus den Lautsprechern am Bahnsteig zu hören.
[audio:https://www.dailymo.de/wp-content/uploads/expresszug-auf-gehts.mp3|titles=Move it]Nicht traurig sein. Sie hatten einen wunderschönen Abend. Die Show war super. Kein Grund, sich jetzt zu hetzen. Gehen Sie in aller Ruhe bis nach vorne durch. In aller Ruhe! Gehen, junge Dame, nicht laufen. Sie haben Zeit. Die nächste Bahn kommt sofort. Hey, lächeln Sie doch mal. Der Abend war doch klasse, oder etwa nicht? Auf Wiedersehen in Düsseldorf.
Von mir dafür: Twelve points, douze points. What an amazing show!