Das Alte Land liegt im Winterschlaf. Tausende von Apfelbäumen recken ihre nackten Gliedmaßen in den Himmel wie Skelette. Die Obstbauern nutzen die Zeit, um Wassergräben zu entschlicken, und hinterlassen dabei eine pechschwarze Dreckspur an den Straßen. An jedem dritten Haus ragt ein Protestschild aus dem gefrorenen Boden: “Keine Elbvertiefung – wir wehren uns”.
Seltsam: Kaum ist man auf bekanntem Terrain, geht man wie ferngesteuert die vertrauten Wege – auch wenn es andere gibt. Scheinbar ist unser Bedürfnis nach Wiedersehen, nach Wiederkennen übergroß. Und wenn sich dann etwas verändert hat – eine Gasse ist zu einer Straße herangewachsen, manche Läden, ja ganze Häuser und Restaurants sind verschwunden, neue entstanden – fühlt sich das an wie ein gebrochenes Versprechen.
Die Elbe-Fähre hat ihren Betrieb eingestellt. Den Garaus gemacht hat ihr wohl die Hamburger S-Bahn, die jetzt bis tief hinein in die erste Meile des Alten Landes fährt. Ohne Umsteigen von Stade auf die Reeperbahn: Nahverkehr halt.
Die knapp einstündige Fahrt bietet viel Zeit zum Gucken, in Gesichter, die nahezu allesamt – mit Ausnahme der ganz Jungen – Geschichten erzählen. Ich glaube, dass jedes tiefe Gefühl, sei es Trauer, Schmerz, Freude oder Leidenschaft, dauerhaft seinen Platz in einem Gesicht einnimmt, auch in jenen, die auf den ersten Blick einfach nur müde aussehen oder sich hinter grellen Farben verbergen. Wie man den Händen die Arbeit ansieht, die sie verrichten, so sieht man jedem Gesicht das Auf und Ab des Lebens an. So soll das sein.