Ich fand mich immer vorbildlich, weil ich nach ungewollt tiefen Einblicken in die Intensivmedizin eine Patientenverfügung samt Vorsorgevollmacht gemacht hatte. Heute bin ich nicht mehr so sicher. Werde ich das, was ich da festgelegt habe, immer noch so wollen, wenn es soweit ist?
Kann man wirklich eine Antwort geben, ohne ganz genau zu wissen, wie die Frage lautet? Eine Entscheidung über Leben und Tod treffen, ohne zu wissen, um welche Sorte Leben es gehen wird? Heute bestimmen, was morgen für mich noch Wert haben wird – und was nicht? Andererseits: Ist es legitim, die Last einer Entscheidung allein den Liebsten aufzubürden? Oder den Ärzten? Wenn die Lage hoffnungslos erscheint, beginnen Mediziner die Angehörigen nach letzten Wünschen zu fragen – auch, so habe ich es jedenfalls erlebt, aus eigener Hilflosigkeit.
Im April entscheidet der Bundestag über die Verbindlichkeit von Patientenverfügungen. Der Nationale Ethikrat hat eine Stellungnahme vorgelegt, die mich nachdenklich gemacht hat. Wenn eine konkrete medizinische Situation eintritt, für die in einer Patientenverfügung Festlegungen getroffen sind, dann soll die Verfügung Vorrang gegenüber “Anzeichen von Lebenswillen” haben. Im Klartext: Das Papier hätte mehr Gewicht als der Mensch, auch wenn der alles andere als lebensmüde wirkt?
Einmal ganz abgesehen von Ethik/Moral usw., gibt es dieses erlebte akustische Bild in meinem Kopf: Da wurde ein Kaninchen des nachts von irgendeinem Tier gerissen. Das Kaninchen schrie wie ein Baby oder Kleinkind, man konnte die Emotionen genau hören und ich bekam eine Gänsehaut: Zuerst wütend und frech, nach dem Motto “lass mich gefälligst los, was fällt dir ein”, dann ging die Wut in Verzweiflung über, etwa, “ja, mich hat’s erwischt, oh Gott, wieso hat’s mich jetzt erwischt”, danach ein Jammern und Flehen: “bitte lass mich doch los, ich will nicht sterben”, dann noch ein kurzes giftiges Aufbäumen, danach dann nur noch leises Winseln – erst nach 10 Minuten war’s dann endlich still.
Das werde ich nie vergessen und was sagt mir das? Ich glaube, dass alles Leben unbedingt und gegen jeden Widerstand leben will. Wenn mancher heute meint, mit 80 habe man doch ein erfülltes Leben hinter sich, da sollte man auch loslassen können, so glaube ich, dass kann nur ein junger (dummer) Mensch sagen. Denn auch mit 80 oder 110 ist jeder Tag Realität und es Wert, gelebt zu werden. Niemand will freiwillig sterben. Ob mit Patientenverfügung oder wie auch immer. Jeder Tag zu früh ist ein Tag zu früh.
Eben diese Einsicht brachte mich dazu, bewusst keine Patientenverfügung zu zeichnen. Ich habe einen selbstgemachten Organspendeausweis, das war’s aber dann. Wie du schon sagst, kann ich doch heute nicht über mein Leben Morgen entscheiden. Und wenn die Verfügung dann noch wichtiger als mein gegenwärtiger Wille ist – mein Gott, das ist purer Horror!
Vielleicht ist das Loslassen-Können ein Prozess des Alters, ich meine, wenn die Uhr abgelaufen ist, dann geht man auch gerne und wohl sogar zufrieden. Ist die Lebensuhr aber noch nicht abgelaufen, klammert man sich wie das Kaninchen jede Sekunde am Leben. Alte Tiere legen sich nieder und wissen, dass sie sterben, da ist die Uhr abgelaufen. Niemand weiß aber, wann genau seine eigene Uhr nicht mehr schlagen will; wie kann man dann zu Lebzeiten den eigenen Todeszeitpunkt (mit-) bestimmen wollen?
Sicher, zu Lebzeiten will niemand pflegetechnisch und Apparatemedizinisch lästig fallen. Aber keiner weiß, was im Kopf eines Komapatienten tatsächlich vorgeht. Manchmal glaube ich, dass die Todessekunde wie ein Leben lang erlebt werden kann. Wie ein Traum, 5 Sekunden Traum können unendliches Glück aber auch ein nicht enden wollender Alptraum sein. Übrigens erhält der Begriff “Fegefeuer” eine völlig neue Perspektive dadurch, finde ich.
Und da ich das alles nicht weiß, kann ich auch keine Patientenverfügung unterzeichnen.
Sorry für den vielen Text, ich gelobe Besserung :-)
Vieles von dem, was du schreibst, sehe ich ähnlich, Georg – natürlich nicht alles, ist ja klar. ;)
“Niemand will freiwillig sterben”, meinst du – das glaube ich so nicht. Ja, ich weiß sogar, dass es nicht so ist. Trotzdem glaube auch ich, dass dieses Szenario denkbar ist: Man trifft ganz konkrete Festlegungen für bestimmte Situationen – und wenn diese dann eintreten, klammert man sich eben doch an das bisschen Leben. Oder an eine Hoffnung. Was, wenn dann die Patientenverfügung entscheidet – und nicht der Mensch, um dessen Leben es geht? Eine Horrorvorstellung, in der Tat.
Ich habe aber auch erlebt, wie wertvoll ein Hinweis für die Angehörigen sein kann. Meine Mutter hatte – rechtzeitig, solange sie noch schreiben konnte – ihre Wünsche in zwei Sätzen auf einen Zettel notiert. Als sie das tat, wusste sie zwar nicht in allen Einzelheiten, aber doch ungefähr, was sie erwartete – insofern ist das mit einer Jahre im Voraus gemachten Patientenverfügung nicht vergleichbar. Für uns jedoch war es ein Segen, diesen Zettel in der Hand zu haben, als wir uns gemeinsam mit einer Ärztin für passive Sterbehilfe entschieden. Wir wussten, dass wir in ihrem Sinne handeln.
Sehe ich ganz genauso. Mir kommen vor Rührung beim Lesen fast die Tränen, denn Abschiede sind immer so endgültig.
Und ich finde, danach wird man in all der Trauer selber größer, man wächst, man läd sich Trauer auf und geht schwerer durch’s Leben, doch gleichzeitig nimmt das Wissen oder Ahnen um all das (Unbeschreibliche) zu.
Ist der Kreuzweg nicht auch eine gelungene Allegorie des Lebens?
Ich meine, wir müssen deshalb ja nicht alle katholisch werden ;o)
Naja… Mo, deine Einträge sind zwar seltener aber dafür seelisch um so aufwühlender, finde ich.
Viele Grüße