Ich habe das Paradies gesehen!
Es sieht aus wie ein nordfriesischer Reetdach-Bauernhof, liegt von einem baumreichen Grundstück umgeben an einem einsamen Weg zwischen Dagebüll und Niebüll, und heißt laut Karte wirklich so: “Paradies”.
Kurz zuvor hatte mich ein Autofahrer nach dem Weg gefragt, und ich hörte mich wie selbstverständlich sagen, dass er sich zuerst Richtung Süden halten und bei der nächsten Gelegenheit nach Westen abbiegen soll – statt von links, rechts oder geradeaus zu reden. Er guckte ein wenig irritiert, folgte aber brav meinen Handzeichen. ;)
Wenig später musste ich mich selbst durchfragen: Der Bahnhof in Niebüll hat sich gut versteckt, erst eine freundliche Postbotin wies mir den rechten Weg. Niebüll ist einer der Haltepunkte, die auch von der privaten Nord-Ostsee-Bahn angefahren werden. Im Grunde fand ich es ärgerlich, dass ich für ein Teilstück der letzten Etappe auf die Bahn ausweichen musste – ich ahnte ja noch nicht, dass ich mich drüben auf Sylt noch weit mehr würde austoben können, als mir lieb war..
Links und rechts vom Hindenburgdamm lassen sich die einzelnen Stufen der Landgewinnung beobachten, von den ersten Prielen über wachsende Aufschüttungen, von Seevögeln bei Niedrigwasser gerne zum Ausruhen genutzt, bis hin zum ersten Deich. Drüben, in Westerland, schwappten mir die Touristenwellen ungebremst entgegen. Ich zögerte nicht und machte mich gleich auf die Weiterfahrt nach Norden. Ich hatte mir in den Kopf gesetzt, als Wendepunkt meiner Tour den Leuchtturm List West zu erreichen, den nördlichste Leuchtturm Deutschlands. Dort würde ich in gut anderthalb Stunden in einer triumphalen Zieleinfahrt ankommen, umjubelt von fähnchenschwenkenden Syltern und in Empfang genommen mindestens vom schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten, der mir einen Siegeskranz um die Schultern legen würde…
Das war der Plan.
Es kam ein wenig anders.
Na gut: Es kam ganz anders.
Auch beim zweiten Versuch (ich war schon einmal auf der Insel, aber das ist so lange her, dass es schon kaum mehr zählt) erschloss sich mir die Attraktivität von Sylt nicht. Bisher konnte ich nicht mal sagen, woran es liegt, dass die Insel nicht sonderlich mag, denn landschaftlich hat sie viel zu bieten. Heute habe ich für das vage Gefühl ein paar handfeste Gründe gefunden.
Dass Sylt eine radfahrerfreundliche Insel sein soll, ist eine Erfindung des Fremdenverkehrsbüros. Klar, es gibt Radwege – aber häufig sind sie nicht asphaltiert, sondern unbefestigte Pfade mit einem Untergrund aus Sand und Kies, die zu befahren nicht nur Geschick, sondern auch eine Menge Glück benötigt. Ich war sicher, dass ich mir auf den Sylter Schotterpisten den ersten Platten meiner Tour holen würde, und bass erstaunt, dass Schläuche, Reifen und Räder das Geholper ohne Schaden überstanden haben.
Rasten ist auf den Sylter Radwegen, die sich durch die Dünen schlängeln, nicht vorgesehen: Es gibt kaum Möglichkeiten, mal irgendwo abseits des Weges zu halten, und wo doch, da sind es private Pkw-Parkplätze, deren Betreiber vermutlich abends vor dem Zubettgehen ihre goldenen Nasen putzen. Ein schattiges Plätzchen zum Ausruhen, ein Radständer in der Nähe – Mangelware. Dünen, so weit das Auge reicht, zweifellos ein wunderbarer Anblick, und es geht auch völlig in Ordnung, dass man sie nicht betreten darf – fur Sylt eine Frage des Überlebens.
Ich hätte mich halt nur mal gerne irgendwo hingesetzt.
Wer zu den Lister Leuchttürmen will (es gibt zwei, List Ost und List West), muss die letzten Kilometer auf einer Privatstraße zurücklegen, deren Betreiber vermutlich neben der Nase noch diverse andere goldene Körperteile ihr Eigen nennen: Durchfahrt 5 Euro pro Pkw. Radfahrer haben großzügigerweise freie Fahrt. Sie zahlen dafür mir blauen Flecken am Hintern, denn das wertvolle kleine Sträßchen ist übersät mit Schlaglöchern.
Das Schlimme ist: Es tut weiter weh, auch wenn die Privatstraße längst endet.
Dann aber kam der Leuchtturm in Sichtweite: Mein Ziel, mein Ruhm, meine Ehre! Mein Empfangskomitee bestand aus einigen zeternden Möwen und einem Ehepaar aus Sachsen, die nur kurz zum Fotografieren gehalten hatten. Nach dem Knipsen stiegen sie in ihren Wagen und setzten ihre Fahrt fort. “Mit dem Auto kann das ja jeder”, rief ich ihnen in Gedanken triumphierend nach.
Aber mit dem Fahrrad?
Es war 12.45 Uhr, und ich hatte nach 303 Kilometern und sechs Etappen mein Ziel erreicht.
Im Film gibt es für solche Momente Rückblenden. Ich gönnte mir eine Pause am Fuß des Leuchtturms (endlich ein schattiges Plätzchen!) und ließ die einzelnen Etappen noch einmal Revue passieren.
Der Blick über den Altonaer Balkon vor sechs Tagen und das bange Gefühl, dass es nun kein Zurück mehr gibt… Geest und Marsch und Deich und Wasser und Reet, Brücken und Schleusen und Umwege, und alle paar hundert Meter runter vom Rad und ein Schafsgatter öffnen und schließen, die Handgriffe wurden immer vertrauter, das Land auch, das freundliche-zackige “Moin!” aus so vielen Mündern (nur auf Sylt grüßt keiner)… Jeder Morgen lag da wie ein unbeschriebenes Blatt, und ich war gespannt wie ein Flitzebogen, was ich bis abends darauf schreiben würde. Jeder Tag ein Erfolgserlebnis, und wenn ich noch so müde und kreuzlahm ankam. Das zuverlässige Wiedersehen mit anderen, die die gleiche oder eine ähnliche Tour machten – man traf sich alle 40, 50 oder 60 Kilometer erfreut wieder und wünschte einander weiter gute Fahrt. In Husum der Handstrich über den Schreibtisch von Theodor Storm, das 400 Jahre alte, aus dem Schlick gebuddelte Wrack im Schiffahrtsmuseum und das Gefühl, nur eine Ameise zu sein, in der Zeit und im Raum…
Ich saß also da an diesem Leuchtturm und jubelte mir einfach selbst ein wenig zu.
I’m a finisher!
Der Rückweg nach Westerland holte mich unsanft aus dem Höhenflug – ein Höllenritt gegen Wind und Sonne, anstrengender als alles, was ich mir zuvor erstrampelt hatte. Die nun wirklich definitiv längsten 18 Kilometer meiner Lebens.Die folgenden zwölf von Niebüll nach Dagebüll zurück waren begleitet von Jammern und Wimmern über die Folgen der Folter-Strecke am Sylter Ellbogen. Hier, in dem Hotel mit Blick aufs Meer, belohne ich mich nun und bleibe ich zwei weitere Nächte.
Danke für all das.
Und euch für die freundliche Begleitung, die mich jeden Tag aufs Neue angeschoben hat.
(Für die Statistik: 66 Tageskilometer. Gesamt: rund 335 Kilometer.)
Yipphey, Du hast es geschafft :-)))))
Ich gratuliere Dir Mo!!!
Echt klasse!!!
Ich werde Deine Reiseberichte vermissen, freu mich aber
Dich bald wieder zu sehen.
Dir noch eine wundervolle Zeit auf der Goldnaseninsel.
Mach´s Dir einfach schön….
Tusch, Konfetti-Regen, Blitzlichtgewitter! Ich ziehe den Hut vor Deiner Leistung (und bin mit Dir froh, daß es ohne Unfälle und größere Pannen abgegangen ist!) und wünsche Dir zudem daß Du die nächsten zwei Tage in vollen Zügen genießt!
Falle ein in Liisas Tusch: “Tätä, tätä, tätä!” *ehrenkranz_dir_umhänge*
Allein das oben mittlere Foto “Am Ziel!” beschreibt es prima, darin kann man dein Glück erkennen. Schöne Urlaubstage wünsch ich dir.
Einfach toll @Mo! Das Glücksgefühl, es geschafft und dabei so viel Schönes erlebt zu haben, hast du dir redlich verdient. Deine Reiseeindrücke sind so anschaulich beschrieben, dass es eine Freude war, hier mitzulesen. Du hast wirklich den richtigen Beruf ergriffen, @Mo. ;-))
Ich verneige mich in Ehrfurcht !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
Gruß Herr S.
Hey – und da ist es ja am Ende doch noch, das fähnchenschwenkende Empfangskommitee! Danke euch allen ganz herzlich!
Well done. Schulterklopf.
Hi Mo,
jubel!!! Du hast’s geschafft, das ist toll! Fühl Dich umarmt. Und das Du nach den Tagesetappen noch in der Lage warst, diese schönen Zeilen zu schreiben, ist bewundernswert. Genieß’ die restlichen freien Tage.
Auf bald,
Das (dieses) Paradies wurde übrigens auch schon von Reinhard Mey besungen.
Ich kenne mehrere Lieder, in denen Valparaiso vorkommt (ein Ort, den ich auch schon einmal sehen durfte), aber dieses Paradies? Welcher Song ist das, Herr Exit?
War im Einhandsegler-Album drin:
http://www.reinhard-mey.de/index.php?id=395&render=text_main&w=1024