Reifeprüfung

Tabus! So sehr wurden wir in den vergangenen Jahrzehnten mit ihren Brüchen überschüttet, dass ich mir schon langsam Sorgen machte. Was, wenn wir beim Griff in die Tiefen alles Menschlichen irgendwann ins Leere fassen – weil da nichts mehr ist, was sich noch gewinnbringend ans Licht zerren ließe? Was, wenn es keine überraschenden Antworten mehr gibt auf die wesentlichen Fragen des Lebens: Wer macht es wo, wann, wie lange, wie oft, mit wem oder mit was? Irgendwann, so dachte ich, gehen sie uns noch aus, die Tabus! Irgendwann haben wir alle Stellungen durch! Und was dann? Wird das Loch, in das wir dann fallen, tief genug sein, um darin vielleicht doch noch ein paar unbeschriebene Geheimnisse zu finden? Und wenn nicht, womit wollen einschlägige Sender, Zeitungen und Zeitschriften dann ihr Geld verdienen?
Zum Glück ist die Sorge unbegründet. Wenn man sich auf eines verlassen kann, dann hierauf: Irgendein Tabu findet sich immer. Und wenn nicht, wird halt eins gemacht. Der Spiegel, zum Beispiel, präsentiert gerade so eins. Denn erst jetzt, da wir dank des medialen Dauerfeuers endlich tief verinnerlicht haben, dass mit jemandem etwas nicht stimmt, der nicht alles und jeden von mehreren Seiten und mindestens dreimal pro Stunde ausprobiert – erst jetzt sind wir reif genug, um uns der bizarrsten Vorliebe aller Zeiten zu stellen:

Leben ohne Sex. Das neue Tabu.