Seelenruhe

Vermutlich wird man werde ich einfach geräuschempfindlicher mit den Jahren. Ganz sicher sogar, denn früher drängte ich mich bei Konzerten grundsätzlich nach vorne, an den Bühnenrand, und wenn ich nach zweieinhalb Stunden neben den Boxen zum Ausgang schwebte, war ich taub, aber glücklich. Ich fand es normal, die Freitagabende an lichtdurchzuckten Orten zu verbringen, wo eine Unterhaltung nur schreiend möglich war. Alles kein Problem. Was hast du gesagt? Wie bitte? Krach?

Heute ist Lärm für mich eine der größten Plagen, die das (urbane) Leben mit sich bringt. Er kommt von allen Seiten: Über mir die Anflugschneise auf Rhein-Main, vor mir eine viel befahrene Straße, nebenan das Fitness-Studio, aus dessen geöffneten Fenstern jene Mitleid erregenden Geräusche dringen, die gestresste Banker beim Aggressionsabbau so von sich geben. Und in jedem S-Bahn-Waggon das Stampfen und Zischeln aus billigen Kopfhörern.
Bin ich zu pienzig?

Vermutlich.

Ich beneide den etwa 30jährigen kleinwüchsigen Mann mit akkurat gekämmter Prinz-Eisenherz-Frisur, der mir in der S-Bahn gegenüber saß. Mitten im ärgsten Krach und Gedränge, umringt von halbstarken gröhlenden Wichtigtuern, vertiefte er sich in aller Seelenruhe in seine Lektüre. Ab und zu verlängerte sich sein Mund zu einem selbstvergessenen Grinsen. Als die Bahn sich seiner Station näherte, fiel es ihm sichtlich schwer, sich von seinem Clever&Smart-Heft loszureißen.

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