Das Zweithöchste der Gefühle

Ich habe ihn hinter mir, den Lauf für mehr Zeit 2004. Es gibt eine gute und eine schlechte Nachricht. Welche wollt ihr zuerst hören?

Ok, zuerst die gute: Ich habe es geschafft, das 5000-Meter-Rennen durch die Frankfurter Innenstadt zugunsten der Aidshilfe.
Die schlechte lautet: Es gibt kein Beweisfoto. Unmittelbar vor meinem Zieleinlauf gaben die Akkus der Kamera den Geist auf. Und in der Hektik hatten wir keinen Ersatz mitgenommen. Ihr müsst es mir also einfach glauben. Immerhin, das Abholen der Startnummer ließ sich noch dokumentieren, ebenso die stärkste Konkurrenz.


Zugegeben: Eigentlich wollte ich ja kneifen. Gegen Mittag beginnt es zu regnen, und um 13.30 Uhr schaue ich zum ersten Mal auf die Lauf für mehr Zeit-Website. “Sie haben es noch nicht abgesagt”, rufe ich Siebenstein zu, die den bedauernden Unterton in meiner Stimme mit einem tödlichen Blick quittiert. “Du läufst. Keine Diskussion.” Sprichts und versenkt mit Bestimmtheit eine Banane in meinen Rucksack.
Es folgt eine Serie von Übersprungshandlungen (Treppe fegen, Wäsche in den Waschkeller tragen, sogar Zigaretten für Siebenstein bin ich kaufen gegangen – ein Ansinnen, das ich üblicherweise strikt verweigere), und als dann auch noch der Himmel aufklart, ergebe ich mich in mein Schicksal.
Und es ist gut zu mir. Die Atmosphäre am Opernplatz, der sich eine Stunde vor dem Start mit gut 3000 Läufer/innen füllt, wirkt besser als jedes Doping. Versorgt mit ein paar Profitipps einer erfahrenenen Triathletin, trabe ich um Punkt 17 Uhr los – und werde prompt hundertfach überholt.
“Kein Problem”, höre ich die trainierte Stimme in mir, “du wusstest, dass das passiert. Mach jetzt nicht den Fehler, an Schnelleren dran bleiben zu wollen.” Mache ich nicht. Ich suche und finde mein eigenes Tempo, lasse die anderen links und rechts an mir vorbeiziehen und richte mich in meinem Laufrhythmus gemütlich ein. Ich weiß, dass ich in dieser Veranstaltung zur Schneckenkategorie gehöre – so what?
Der Kurs führt über zweieinhalb Kilometer, die zweimal absolviert werden müssen, und gegen Ende der ersten Etappe werde ich erstmals überrundet. Da rasen sie an mir vorbei, die Anwärter auf die vorderen Plätze, und machen regelrecht Fahrtwind. Was solls, ein kleiner Windstoß kommt mir gerade recht. Auf diesem Abschnitt laufe ich direkt in die Spätsommersonne hinein, die gegen Ende des Tages nochmal ordentlich einheizt.
Links und rechts der Strecke geben tausende Zuschauer alles, um uns anzufeuern, und als ich mittendrin im Gewühl Siebenstein entdecke, die sich die Lunge aus dem Leib schreit, weiß ich: Alles wird gut. Wie ein fliegender Teppich trägt mich der Applaus in die zweite Runde. Herrlich. “Und wo lauf ich morgen?”, tönt die Stimme in mir großmäulig.
Ich überhole ein Pärchen, das mich in der ersten Hälfte flott hinter sich gelassen hatte, und schnappe dabei ein ärgerliches “viel zu schnell losgelaufen” auf. Kurz darauf passiere ich zum zweiten mal den Tisch mit den Getränken. Soll ich? Hm. Zu spät – vorbei. Ich biege in die letzte Gerade ein, und nun werden die Beine schwer. Ein Kilometer noch.
Nur noch ein Kilometer! “Beiß die Zähne zusammen!” Die Stimme in mir klingt deutlich kleinlauter als vor ein paar Minuten. Wieder werde ich überholt. “Los, zieh an. Gib alles!” Du hast gut reden, innere Stimme! Du musst ja nicht laufen!
Schließlich hör ich doch auf sie. Sprinte die letzten 200 Meter durch ein Spalier aus klatschenden Händen, seh kein einziges Gesicht, nur das Transparent mit der Aufschrift “Ziel”. Nach 38 Minuten und 40 Sekunden laufe ich drunter durch. Zwei Sekunden später falle ich Siebenstein in die Arme.

5 Kommentare

  1. Bravo!!!! über sechs Minuten schneller als du dachtest. Und es war einfach Klasse ? was sagt die innere Stimme heute? Gibt es einen nächsten Lauf?
    Meine inneres Stimme wollte im übrigen das ich bereits nach der ersten Runde aufgebe. Aber ich hätte mich im nachhinein schrecklich geärgert. Die Schmerzen sind im Ziel vergessen, wenn man aber aufgibt oder garnicht erst antritt hält das viel länger und irgendwie schmerz es dann noch mehr.
    Ich gratuliere (wir haben auch noch ne Ausschreibung für HH übrig ;-))

  2. Meine innere Stimme sagt mir, dass es auf jeden Fall einen nächsten Lauf gibt – und dass es nicht der Hamburg-Marathon sein wird! ;) Vielleicht nehme ich mir fürs kommende Jahr die 10-Kilometer-Marke vor… mal sehen. Danke nochmal für deine Tipps – ich hab sie beherzigt und bin gut damit gefahren – äh, gelaufen.

  3. Gute Zeit für diese Distanz für das erste Mal! Ja, wenn man einmal “Blut geleckt” hat… ;o)
    (Habe gestern erstmals wieder trainiert, aber immer noch nicht hundertprozentig schmerzfrei…)

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